"Paris, Rilke und ich" - eine Erzählung

"Paris, Rainer Maria Rilke und ich" - Die erste Momentaufnahme

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Ich sitze im Wartesaal des Nürnberger Flughafens. Ich habe noch dreißig Minuten Zeit bis zum Einsteigen in meinen Flieger nach Paris. Wenn der Flug ausgerufen wird, muss ich verschiedene Glastüren durchqueren und einen Gang entlang auf den eigentlichen Flughafen gehen. Ich nehme mir vor, die Zeit mit Schreiben zu verbringen. Ich versuche, nicht nur das aufzuschreiben, was ich in Sätzen vorher im Kopf habe, sondern den Bewusstseinsstrom zu nutzen und Dinge aufzuschreiben, die sozusagen von allein in meine fleißigen Finger fließen.
Ich sehe direkt auf einen Flieger nach Berlin. Der Platz, auf dem die Flugzeuge stehen, besteht aus großen Betonplatten. Es regnet und man hat wenig Lust, zu verreisen. Allerdings spielt das Wetter bei meinem Vorhaben keine bestimmende Rolle. Schöner wäre es natürlich, die Plätze, die für Rilke in Paris wichtig waren, bei Sonnenlicht zu sehen und zu beschreiben.
Ich hatte wenig Zeit, mich auf Paris vorzubereiten. Und so entstand der Plan, mich den Plätzen anzuvertrauen, die von Rilke oft besucht worden sind. Vielleicht war noch etwas von ihm zu spüren? Ein Schatten? Eine Energie? Ich erinnerte mich an einen Besuch auf dem Barkenhoff von Heinrich Vogler in Worpswede, wo Rilke oft übernachtet hat. Kaum hatte ich das Zimmer betreten, fühlte ich seine geistige Präsenz in mir. Es war ein starker Augenblick. Sollte es in Paris auch einen solchen Ort geben?
Rilkes Lieblingsplätze gibt es noch immer. Die Häuser, in denen er ein Zimmer gemietet hatte, stehen noch. Aber welche sind es, genau genommen? Wie sehen sie aus? Aus welchem Fenster hat er geschaut? (Rilke schaute gerne aus dem Fenster). Gibt es auch noch die Bibliotèque Naionale, wo Rilke sich in der Zeit seines intensiven Arbeitens am "Malte" jeden Tag viele Stunden lang aufgehalten hat? Der Jardin du Luxembourg, wo er sich flanierend entspannt hat, wäre in Augenschein zu nehmen; gibt es noch das Karoussell mit dem weißen Elephanten? Was ist mit dem Jordin des Plantes, wo er das Urbild des Panthers studiert hat? Was ist mit dem Hôpital Dieu, zu dem die Sterbenden gebracht wurden; die großen Museen, unter ihnen besonders der Louvre und das Musée de Cluny?
Ich bin mir sicher, die Liste ist nicht vollständig. Auch variiert sie je nach dem Schwerpunkt, den Rilke sich in seiner Arbeit setzte. Mal standen die staatlichen Museen im Vordergrund, mal die privaten Gemäldegalerien, mal die Besuche in den Zoos für das Studium nach der Natur. Von Geselligkeiten oder gar Vereinen weiß ich nichts; die hat Rilke gemieden. Er war nicht darauf aus, sich zu amüsieren, sondern ähnlich wie Rodin, seinem großen Vorbild aus der ersten Pariser Zeit, wollte er sein künstlerische Können verbessern. Dieses Ziel konnte er nur erreichen, wenn er lernte, genau wahrzunehmen. Genau wahrnehmen heißt: ich schaue mir ein Objekt an. Dann schließe ich die Augen und rekonstruiere das Objekt. Dann öffne ich die Augen wieder und studiere die Auslassungen. Ich benutze gerne den Fotoapparat. Rilke führte ein Arbeitsjournal. Er studierte das Verhalten der Menschenmassen in der Großstadt, die exotischen Tiere und die historischen Denkmäler, indem er sich Notizen vor Ort machte. Die Notizen flossen dann in die Briefe ein und von dort aus gelangten sie in seine Gedichte und Erzählungen.
Einige der erwähnten Rilke-Orte haben auch das Herz von Hans Keydel höher schlagen lassen. Die Seine und ihre Quais hatten es auch dem deutschen Jungen im Paris der Nachkriegszeit angetan. Er stand innig versunken vor den braunen Lederrücken alter Bücher, die von denBouquinisten ausgestellt wurden. Er schaute gerne auf die alten Liederhandschriften mit ihren Illuminaturen. Zwischen Hans und Rainerbesteht ein zeitlicher Abstand von vierzig Jahren und zwei Weltkriegen. Rilke war siebenundzwanzig Jahre alt, als er nach Paris gekommen ist. Hans war dreizehn Jahre alt, als er anfing, sich für Bücher zu interessieren.
Wie lässt sich das Verhältnis beschreiben, das Rilke im September und Oktober des Jahres 1902 zur Großstadt Paris aufbaute? Ich werfe einen raschen Blick auf die Flughafenuhr und sehe, dass ich noch zehn Minuten Zeit habe, darüber zu schreiben.
Rilke fühlte sich schnell und gut aufgenommen. Das gute Wetter hielt seit seiner Ankunft am 28. August 1902 in der Gare du Nord an und zeigte die Stadt in glänzender Verfassung. Er bemerkte bald, dass die Stadt sich nicht als Ansammlung von Straßen und Häusern, sondern nur als eine Art Landschaft begreifen ließ, in der das Leben und der Tod sich ständig umarmten. Er hat diese Stadt als das "Herz Europas" bezeichnet. Das pulsierende Leben in dieser Stadt gab ihm das Gefühl vollzähligen Lebens.
Rilke hat sich während seiner Zeit in Paris um die moderne Malerei verdient gemacht. Er studierte die Avantgarde und schrieb glühende Briefe der Bewunderung über Cézanne, Van Gogh und Picasso. Er war mit der jungen Malerin Paula Modersohn-Becker, die in Paris ihre Malkunst vervollkommnete, eng befreundet. Er hat sein Buch überAuguste Rodin geschrieben. Man bewundert heute noch das Gedicht Der Panther, im Jardin des Plantes. Es sind dies nur einige Schlaglichter auf das Engagement Rilkes in Paris. 
Von den zehn Minuten sind noch fünf übrig. Die Uhrzeiger rücken unerbittlich nach vorn. Allmählich geht mir aber der Stoff aus. Eine zweite AirBerlinMaschine rollt über die Betonplatten. Die Lautsprecher ertönen gelegentlich und machen Ansagen auf Deutsch und Englisch. Manchmal werden Passagiere namentlich aufgerufen und irgendwohin gebeten.
Die erste lange Periode die Rilke in Paris gelebt hat, geht vom Sommer 1902 bis zum August 1914, als Frankreich in den Krieg zog und das bevorstehende Ereignis von den Menschen Besitz ergriff. Da musste der deutsche Dichter schleunigst das Feld räumen, wollte er nicht aufgegriffen und verdächtigt werden. Ähnlich erging es übrigens auch Loulou. Auch sie musste in großer Eile aus Frankreich fliehen. Rilke konnte gerade noch ein paar Kisten mit seinen Habseligkeiten bei Freunden von André Gide unterstellen. Von Paris aus flüchtete er nach München. Dort traf er dann auf Loulou.
Die Begegnungen mit Rodin im Herbst 1902 veränderten seine Lebensplanung. Aus dem Kurzbesuch zum Zwecke des Schreibens einer Monographie über den großen Bildhauer wurde eine Art Wahlstätte des zu seinem Künstlertum erwachten Dichters. Ähnlich den Malern aus aller Welt, die nach Paris strömten, erging es dem Dichter Rilke. Er schmiedete in Paris seinen Weltruhm, der ihm nach 1910 (Veröffentlichung des Malte-Romans) allmählich zufloss.
Als Rilke nach dem Krieg in den Jahren 1920 und 1925 von der Schweiz aus nach Paris zurückkehrte, war er der berühmte deutsche Dichter geworden, der er gerne sein wollte. Er war nun kein einsamer Wolf mehr im Dschungel der Großstadt, sondern ein hochgeschätzter Gast in den Pariser Salons. Am liebsten hätte man einen französischen Dichter aus ihm gemacht. Er schrieb ja seit 1923 auch Gedichte in französischer Sprache und war bei einigen Literaten in Paris wie André Gide und Paul Valéry auch als Dichter hoch angesehen.
Ich muss Schluss machen. Eben wird mein Flug aufgerufen. Ich klappe das Notebook eilig zu, das ich vor mir auf dem Schoß habe. 

 

<< zurück

   

Seite 2 von 9