Das Ding als Yantra/Ikone (Sonett II 22, II 6 & II 14)

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von Gisli Magnusson

 

Wenn man ein Hauptmotiv der Sonette an Orpheus auswählen sollte, wäre es Doppelheit und Multidimensionalität jeglicher Erfahrung. RilkesRühmung des Hiesigen besteht in der Ver-gegenwärtigung der mehr-als-hiesigen Essenz der Dinge. Obwohl das orphische Prinzip vom materialistischen Zeitgeist bedroht ist, beteuern uns die Gedichte immer wieder, dass das Göttliche nicht ganz verdrängt werden kann, sondern immer Wege in die Erfahrung findet. Das gleiche gilt für das problematische Selbstbewusstsein des Menschen, das auf selbstdestruktive Weise das offene Bewusstsein verdeckt. Grundlegend scheint die Botschaft der Sonette zu sein, dass Normalperzeption und Gewohnheitsdenken defizitär sind. Alles könnte anders sein: Es könnteorphisch sein! Die Gedichte wollen auf diese orphischen Erfahrungendeuten, zum einen durch Sprachmagie und Suggestivität, zum anderen durch die Beschreibung dessen, was nicht orphisch ist. Rilkes 'Dinge' sind das, was John Senior Yantras nennt: "A symbol [...] is what the Hindu would call a yantra, an image which permits the mind to break through its ordinary limits in order to perceive things not as they seem, but are[.] [...] The value of the symbol is that, in evoking the sensation of vagueness, it stretches the limits of consciousness."1 In der russisch-orthodoxen Tradition, die Rilke eingehend kannte, hat die Ikone eine ähnliche Funktion wie das hinduistische Yantra: Sie sind Fenster zum Mehr-als-Hiesigen, Meditationsobjekte2. In den Sonetten an Orpheus gibt es eine Reihe von Yantras/Ikonen: die Rose, die Blume, den Baum und die Frucht. Im Sonett II 22 sind die essentiellen Dinge das Gegengewicht zur modernen Stadtrealität. Im Gegensatz zu George, der im GedichtKomm in den totgesagten Park - dem dekadenten Stil Huysmans folgend - das Artifizielle in der von Menschen geformten Natur preist, steht die Rilkesche Rühmung der essentiell-göttlichen Spuren in der Park-Natur im Zeichen des Dennoch. Entscheidend ist - wie es in der zweiten Strophe heißt - dass die 'eherne Glocke' ihre Keule 'täglich wider den stumpfen Alltag hebt'3. Es gibt also ein Alltagsbewusstsein, das von einem 'Glocken'-Bewusstsein transzendiert werden kann. Wie bewirkt der Laut der Glocke diesen Bewusstseinsumschwung? Indem der akustische Klang der Glocke die Richtung des Bewusstseins ändert. Das Zen drückt es so aus, dass es im nondualen Bewusstsein beim Glockenläuten keine Glocke und kein Ich gebe, sondern nur das Läuten.4 Die Subjekt-Objekt-Spaltung wird aufgehoben.5

Ein anderes Yantra, das in dieser Strophe genannt wird, ist die ägyptische Säule, die dem Schicksal der Zeitlichkeit trotzt und so in zweifacher Hinsicht zum Symbol des 'Kunst-Werks' wird.6 Zum einen, weil sie durch ihr hiesiges Dauern die mehr-als-hiesige Beständigkeit des 'Kunst-Werks' andeutet. Zum anderen, weil die einsam strebende Säule selbst diese göttliche Richtung ist. Wer die Säule wahrnimmt, stellt die gleiche Richtung im Inneren her. 

Im Orpheus-Sonett II 6 kommt eine solche symbolistische Ikone in Form einer Rose vor. Die thronende Rose des Sonetts hängt strukturell mit dem Rosen-Sonett des ersten Teils (I 5) zusammen. Das Sonett I 5 beschreibt Orpheus als die Essenz der Dinge. Der erste Satz lautet: "Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose / nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn."7 Hier bezeichnet die Rose kraft ihrer Schönheit und organischen Lebendigkeit die immer neue Erfahrung, die im Gegensatz zur statischen Form des 'Denksteins' im Widerspruch steht. Der 'Denkstein' bezeichnet die zeitlich-begriffliche Fixierung eines Dinges in der Erinnerung.8 Der orphisch-erfahrungsmetaphysische Blick erlebt die Dinge immer im jetzigen Augenblick, wo sie frisch und lebendig sind.9

Im Sonett II 6 wird dichterisch verwirklicht, was eine Rose ist, wenn sie nicht begrifflich-gedanklich versteinert ist, sondern als Ikone oder Yantra aufleuchtet.

Rose, du thronende, denen im Altertume
warst du ein Kelch mit einfachem Rand.
Uns aber bist du die volle zahllose Blume,
der unerschöpfliche Gegenstand.

In deinem Reichtum scheinst du wie Kleidung um Kleidung
um einen Leib aus nichts als Glanz;
aber dein einzelnes Blatt ist zugleich die Vermeidung
und die Verleugnung jedes Gewands.10

Das erste Quartett beschreibt die Evolution der Rose seit dem Altertum bis heute. Von einem 'Kelch mit einfachem Rand' hat sie sich zur 'thronenden Rose' der Gegenwart entwickelt. Dieser Prozess ist kein ausschließlich biologischer, sondern muss im Kontext der Bewusstseinsevolution verstanden werden. Die Rose wird in der Interaktion mit dem menschlichen Bewusstsein immer 'larischer', bis sie eine 'volle zahllose Blume' geworden ist. Die letzte Zeile leitet von der metageschichtlichen Perspektive zur Erfahrungsmetaphysik über: Die Rose ist ein 'unerschöpflicher Gegenstand' geworden. Mit anderen Worten ist sie eine Ikone bzw. ein Yantra geworden, eine Öffnung zur Fülle und Unerschöpflichkeit. Das zweite Quartett setzt die sinnlich-übersinnliche Erfahrung der Rose souverän in dichterische Sprache um. Würde man die Rose mit dem Alltagsbewusstsein betrachten, würde sie zum 'Denkstein' werden, sie würde als Erlebnis versteinern. Erst dem offenen Bewusstsein erscheint die Rose in ihrer Schönheit und ihrem 'Reichtum'. Die 'Kleidung um Kleidung' sind die Rosenblätter, die die Form der Rose ausmachen. Der 'Leib aus Glanz' ist die formlos-übersinnliche Dimension der Rose, die sie überhaupt als schön hervortreten lässt. Nur aus der Sicht des Alltagsbewusstseins sind die folgenden Zeilen paradox. Dass das 'einzelne Blatt zugleich die Vermeidung und die Verleugnung jedes Gewands' ist, heißt, dass die Rose sowohl eine hiesige Form als auch ein mehr-als-hiesiger Glanz ist. Die Rose ist also mit dem Archaischen Torso des Apoll verwandt, der für das Alltagsbewusstsein bloß ein 'entstellter Stein' ist, dem Auge der Gnosis aber 'wie ein Stern aus allen seinen Rändern bricht': Die Form der Statue wird auf das zugrunde liegende göttliche Licht transparent gemacht. Rilke beschreibt also, wie ein Kunstwerk oder ein Ding (Rose) zur Ikone bzw. zum Yantra werden kann, nicht im Sinne einer religiösen Tradition, sondern im Sinne nonkonfessioneller künstlerischer Gnosis.

Im Sonett II 14 kommt ein zusätzliches Beispiel für ein Yantra vor:

Siehe die Blumen, diese dem Irdischen treuen,
denen wir Schicksal vom Rande des Schicksals leihn, -
aber wer weiß es! Wenn sie ihr Welken bereuen,
ist es an uns, ihre Reue zu sein.

Alles will schweben. Da gehn wir umher wie Beschwerer,
legen auf alles uns selbst, vom Gewichte entzückt;
o was sind wir den Dingen für zehrende Lehrer,
weil ihnen ewige Kindheit glückt.

Nähme sie einer ins innige Schlafen und schliefe
tief mit den Dingen -: o wie käme er leicht,
anders zum anderen Tag, aus der gemeinsamen Tiefe.

Oder er bliebe vielleicht; und sie blühten und priesen
ihn, den Bekehrten, der nun den Ihrigen gleicht,
allen den stillen Geschwistern im Winde der Wiesen.11

Das Rosensonett stellt die Schönheitserfahrung in den Mittelpunkt. Das Blumensonett II 14 thematisiert die dem menschlichen Bewusstsein inhärenten Mechanismen der Sabotage. Die Blume ist hier das Yantra, das dem Menschen zeigt, dass es einen anderen Zustand gibt. Die Blume symbolisiert eine dem menschlichen Alltagsbewusstsein entgegengesetzte Seinsform, die nur Gegenwart kennt. Insofern ist sowohl die Thematik als auch der Gegenstand (Blume) mit der Achten Elegie verwandt: "Wirhaben nie, nicht einen einzigen Tag, / den reinen Raum vor uns, in den die Blumen / unendlich aufgehn." Der 'reine Raum' (Weltinnenraum) entsteht nur, wenn das Bewusstsein offen ist. Die Blumen haben kein Selbstbewusstsein und können sich nicht in Vergangenheit und Zukunft verlieren. Sie können ihr eigenes Welken (Zukunft) nicht bereuen, denn Reue gehört zum defizitären menschlichen Bewusstsein. Das zweite Quartett verallgemeinert die Perspektive: 'Alles will schweben', alle Dinge wollen im 'freien Raum' existieren. Dieser schwebende Zustand ist zwar eine Möglichkeit des menschlichen Bewusstseins, aber meistens sind die Menschen 'Beschwerer', die ihr Schwersein in die Dinge hineinprojizieren. Paradoxerweise scheinen die Menschen 'vom Gewichte entzückt' zu sein. Es ist ein Zeichen der Unbewusstheit der Menschen, dass sie im Schweren schwelgen, anstatt es zu transformieren. Als höheres Glied der Seinskette sollte der Mensch der 'Lehrer der Dinge' sein, aber weil er sein Potential zur Offenheit nicht nützt, muss er als 'zehrendes' Wesen mit Neid die 'ewige Kindheit' der Dinge betrachten. Die Regression zur 'ewigen Kindheit' ist zwar nicht möglich, aber die unbewusste Einheit mit dem Offenen, die in den Dingen und Blumen zum Vorschein kommt, erinnert die Menschen daran, dass ihr 'zehrender' Zustand zugunsten eines freischwebenden orphischen Bewusstseins transzendiert werden kann. Die Terzette stellen dar, wie die Dinge/Blumen dem Menschen helfen können. Im Normalzustand verliert der Mensch den Kontakt zur Tiefe. Wenn er sich aber in die Dinge/Blumen vertiefen würde ('ins innige Schlafen'), könnte er an ihrer Seinstiefe teilhaben. Das Gewicht der Zukunft wäre verschwunden: Er käme 'leicht' und 'anders zum 'anderen Tag'. Das letzte Terzett spielt mit dem regressiven Gedanken, dass der Menschen im trancehaften Blumenbewusstsein bliebe. Mit großer Schönheit wird diese hypothetische Gemeinschaft ausgemalt. Der zur Stille Bekehrte würde sich mit seinen 'stillen Geschwistern im Winde der Wiesen' wiegen. Die Harmonie des Zustands wird sprachmagisch durch die 'i'-Assonanzen vermittelt, die ein leises Lächeln indiziert. Die drei 'w'-Alliterationen ahmen die rhythmischen Bewegungen der Blumen nach. Dem idealen Leser reicht Rilkes Sprachmagie, um zur Stille bekehrt zu werden.

1 Senior, John: The Way Down and Out, S. 43.
2 Jenifer S. Cushman misst der Ikone als Parallelphänomen des spirituellen Rilkeschen 'Kunst-Werks' dermaßen große Bedeutung bei, dass sie eine ganze Dissertation darüber verfasst hat. Die spirituelle Dimension in Rilkes Werk assoziiert sie mit der expliziten Spiritualität des russichen Symbolismus. In einem Artikel, der ihre These zusammenfasst, schreibt sie: "Both Kandinsky and Malevich arose from the Russian culture with its 'passion for seeing spiritual truth in concrete forms' [...]; abstract art in Russia thus arose in part from the cultural function of icons and their place in Eastern Orthodox liturgy. Malevich's Suprematist images were essentially two-dimensional shadows and energy residues of theoretical three-dimensional objects that had transcended into the fourth dimension; the painting itself acted as a border or window between our world and the 'other' realm to the supplicant. Exactly that point of spatial transcendence and 'meaningfull [sic] emptiness' that Malevich garnered from the icons that surrounded him became important for Rilke as well. The notion of 'Raum' for Rilke thus relates primarily to the religious realm of icons." (Siehe Cushman, Jennifer [sic]: "The Avant-Garde Rilke: Russian (Un)Orthodoxy and the Visual Arts", in: Unreading Rilke. Unorthodox Approaches to a Cultural Myth. Hrsg. v. Hartmut Heep. New York u.a.: Peter Lang 2001, S. 141) Paradoxerweise leitet die prämoderne Spiritualität der Ostkirche bei Malewitsch, Kandinsky und Rilke hin zur künstlerischen Modernität.
3 SW I 766.
4 "As a great Zen Master said upon his enlightenment: 'When I heard the sound of the bell ringing, there was no bell and no I, just the ringing.'" Wilber, Ken: One Taste. Daily Reflections on Integral Spirituality. Boston: London 2000, S. 53. 
5 Das genannte Bild erinnert an die Subjekt-Objekt-Umkehrung in den letzten Zeilen des Gedichts Archaischer Torso des Apoll, wo das betrachtende Subjekt vom Kunst-Werkbetrachtet wird, eine Bewegung, die als lebensverändernd ausgelegt wird ('Du mußt dein Leben ändern.' SW I 557).
6 Diese Säule in Karnak hat biographischen Hintergrund. Rilke hatte sie auf seiner Ägyptenreise wahrgenommen und schon im Gedicht In Karnak wars aus dem Zyklus Aus dem Nachlaß des Grafen C. W. bearbeitet: "[...] Und jetzt, für unser ganzes Leben, / die Säule -: jene! War es nicht genug? // Zerstörung gab ihr recht: dem höchsten Dache / war sie zu hoch. Sie überstand und trug / Ägyptens Nacht. [...] Wir brauchten eine Zeit, dies auszuhalten, weil es fast zerstörte, / daß solches Stehn dem Dasein angehörte, / in dem wir starben." SW II 118f. [Hvh. v. Rilke]
7 SW I 733.
8 Die Fixierung in der Erinnerung unterscheidet sich von der kontemplativen Erinnerung einer Gipfelerfahrung, die bei Rilke einen positiven Stellenwert hat.
9 Es könnte sich hier um einen intertextuellen Hinweis handeln, denn bei Emerson, den Rilke als junger Mann intensiv rezipierte, finden wir eine fast identische Beschreibung der Rose: "These Roses under my window make no reference to former roses or to better ones; they are for what they are; they exist with God to-day. There is no time to them. There is simply the rose; it is perfect in every moment of its existence [...] But man postpones or remembers; he does not live in the present, but with reverted eye laments the past, or, heedless of the riches that surround him, stands on tiptoe to forsee the future. He cannot be happy and strong until he too lives with nature in the present, above time." Emerson, Ralph Waldo: Self-reliance, in: R.W.E.: The Spiritual Emerson, S. 97.
10 SW I 754.
11 SW I 760.