Gedanken zum Gedicht: "Die Stille"

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1.
Was ist der vom Lesen dieses Gedichtes ausgelöste Impuls? Schließt du die Augen und spürst nach? Kommen dir Fragen?
Ich verweile bei meiner Frage: Musst du die Augen schließen und nachspüren? Wirbeln dir Gedanken durch den Kopf? 
Wohin führt dich das Gedicht in dir drin? Welche Empfindungen stellen sich ein?
Das Gedicht sendet Impulse aus. Es sind noch andere als die von mir erwähnten denkbar. Wichtig ist allein: welcher Impuls ist deiner?
Ich kenne das Gedicht schon eine Weile. Ich habe es schon vor Jahren vorgetragen. Ich erinnere mich sehr genau daran, dass es eine Welle von Stille unter den ZuhörerInnen ausgelöst hat. Die erste Strophe mit ihren drei Wiederholungen habe ich gut in Erinnerung behalten. Die zweite Strophe hingegen hatte ich ganz vergessen. Erst nach einer Weile kam die Erinnerung an die "Handgelenke entfernter Engel" zurück.
Dann habe ich meine Augen geschlossen und auf das "Rauschen" geachtet. Es war ein kurzes, aber intensives Lauschen. Es gab keine Gedanken, sondern nur ein Nachhall des Regens auf dem Dach unter dem ich sitze. Es ist ein lauer Morgen im Mai. Die Luft ist voller Freude und Wachstumskraft. Man möchte gerne draußen sein und am Wachstum der Natur teilnehmen. 
Zwischen dieser meiner Realität und dem Gedicht sehe ich als Verbindung das gemeinsame Lauschen auf die Stille. Und noch eine zweite Verbindung bemerke ich. Auch meine Geliebte ist nicht anwesend. Sie ist vor einer Stunde zur Arbeit gefahren. Auch konnte ich mich heute Morgen, nach einem gemeinsam verbrachten Wochenende, nicht gut von ihr trennen. Ich wünschte sie mir zurück. Vielleicht sitze ich hier und lausche auf die Stille, weil ich sie spüren möchte. Aber sie ist nicht anwesend. Es bleibt die Stille als Brücke in die Ferne, wo die Geliebte weilt. Und eigentlich ist sie dann auch nicht mehr wichtig. Denn die Abwesenheit füllt sich mit Stille und die Stille legt wie einen Verband auf die Wunden, die das Leben der Seele zugefügt hat. Die Stille nährt, wer auf sie lauscht, sobald Unruhe und Angst überwunden sind.

2.
Ich wende mich jetzt in einem zweiten Schritt der "objektiven Gestalt" des Gedichts zu und spüre ihr nach. Der Sprecher der ersten Strophe ist eine nicht näher benannte Beziehung zu einer Frau eingegangen, die er "Geliebte" nennt. Er ist jetzt allein und versucht, die Abwesenheit der Geliebten zu fühlen. Erst hebt er die Hände und spürt dieser Bewegung nach. Dann schließt er die Augen und besinnt sich. Doch dieses sein Tun kann ihm die Geliebte nicht zurückbringen. Er gesteht sich ein, dass er sie vermisst. Das Gedicht erhält von hier aus gesehen den Charakter eines Klageliedes. Es drückt die Empfindung der Trauer aus.
Die zweite, ganz andere Strophe wechselt den Rhythmus und die Diktion. Der Sprecher dieser Strophe nimmt einen zweiten Anlauf, die Stille zu ergründen. Er tröstet sich in den ersten vier Versen mit geschmeidigen Formulierungen in der Art des Jugendstils. Die dann folgenden fünf Verse heben sich deutlich ab. In ihnen vollzieht der Sprecher der zweiten Strophe die Figur einer kosmischen Erweiterung, wie sie in den "Duineser Elegien" häufiger zu finden ist (so habe ich dies in meinem Buch "Wege ins Dasein" genannt.) Sein hartnäckiges Bemühen, die Stille unabhängig von der Geliebten zu erfahren, wird hier mit Erfolg gekrönt. Die Stille offenbart sich dem klagenden Sprecher in ihrer eigenen Dynamik als Sternenkraft und lebendiger Atem. Auch dies sind Schlüsselwörter, die weit voraus auf das Spätwerk Rilkes verweisen. Die beiden letzten Verse kehren in der Art ihrer Formulierung zur ersten Strophe zurück. Sie knüpfen aber nicht nur an und runden die innere Gestalt des Gedichts ab, sondern zeigen etwas. Sie zeigen, dass die Suche des Sprechers nicht umsonst war: es ist ihm gelungen, sich mit der Stille als eigenständiger Größe zu befreunden.

3.
Ich kenne nun meine Empfindungen (1. Abschnitt) und habe die objektive sprachliche Gestalt des Gedichts studiert (2. Abschnitt) und dabei eine These oder Deutung formuliert. Ich sagte, der Sprecher habe die Stille als eigene Realität unabhängig von der Sehnsucht nach der Geliebten entdeckt. 
Bleibt es bei dieser Deutung? Oder wird der ernsthafte Austausch mit Jemand über dieses Gedicht einen neuen Zugang erbringen? Das Besondere am Austausch könnte ja gerade darin bestehen, dass ich lerne, meine Verstehensgrenzen zu erkennen. Gerade wenn mein Gesprächpartner anderer Meinung ist, erhalte ich die Chance zur Überprüfung meiner Position.
Also halte ich Ausschau nach einer geeigneten Gesprächspartnerin. Ein geeigneter Gesprächspartner ist nicht unbedingt jemand, der viel über Rilke weiß. Ein geeigneter Gesprächspartner ist jemand, der sich bereit findet, sich auf den Text einzulassen. 
Eben fand der Austausch statt. Im Gespräch mit K. habe ich verstanden, dass die von mir erarbeitete These eine Projektion meiner eigenen Stille-Erfahrung auf die des Gedichts von Rilke darstellt. Das Gedicht kommt ja zum den Schluss, dass das Denken an die Geliebte und der Versuch, sich von ihr zu lösen und sich ganz auf die Stille selbst einzulassen, keinen Erfolg gebracht hat. Die Stille kann die Geliebte nicht wirklich ersetzen. Die vom Sprecher des Gedichts aufgezählten Wahrnehmungen sind sehr bemüht, bleiben aber machtlos in Bezug auf die Erinnerung an die Geliebte.
Meine eigene Stille-Erfahrung habe ich mit den Worte angedeutet, dass sie die Seele nährt. Nicht mit Gedanken und auch nicht mit Bildern oder Gefühlen, sondern mit dem Schweigen. Im Schweigen offenbart sich die Existenz als solche. Aber alle Worte dafür und darüber können nur einen schwachen Abglanz des Eigentlichen geben.
Wichtig ist auf dieser dritten Stufe das Sichöffnen für neue Deutungen. In dem jetzt entstehenden Raum ist jeder ernsthafte Versuch, zu verstehen, willkommen. Ich habe erkannt, dass mein Verstehen Grenzen hat und dass es gerne mit Projektionen arbeitet. Ich bin bereit, mir meine Projektionen anzuschauen und die Grenzen immer wieder neu zu überschreiten.

4.
Ein letztes Wort über den inneren Zusammenhang der Abschnitte eins bis drei. Ich bin durch das Studium der Literaturwissenschaft und durch meine langjährige Tätigkeit als Lehrer geschult worden, Gedicht als sprachliche Gestalt zu erkennen. Darauf bezieht sich der zweite Abschnitt. Doch dieser Diskurs, so wissenschaftlich er sich auch geben mag, bleibt an subjektive Voraussetzungen gebunden. Welche Voraussetzungen das sein können, zeige ich im ersten Abschnitt auf. Der erste Abschnitt berichtet über den spontanen Zugang. Die Empfindungsebene ist für die Arbeit mit poetischen Texten äußerst wirksam und trägt dazu bei, dass das interpretierende Subjekt etwas für sich selbst aus der Beschäftigung mit dem Text ziehen kann. Der dritte Absatz schließlich reflektiert über die Öffnung der eigenen Lesart im Gespräch. Mir wurde im Gespräch bewusst, dass ich eine einseitige Sichtweise formuliert hatte. Es lag nun nahe, sie zu überdenken. Auf dieser dritten Ebene stehen alle Lesarten des Textes sozusagen gleichberechtigt und gültig und befruchtend nebeneinander. -

Johannes Heiner, Poxdorf im Juli 2007