Über die Flügelnatur des Geistes

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Eine Deutung von Jadwiga Krzyżaniak, Warschau, zu 
"Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt..."

Der Geist durchdringt die Materie. Er war von Anfang an und "schwebte über den Wassern" (Genesis). Mit der Wirrnis ist es ähnlich. Auch sie gehört zum Uranfang der Menschheit. Doch gegenüber dem Geist wirkt sie als Antagonistin. Die Wirrnis kann nicht erheben. Sie ist dunkel und chaotisch. Allein der Geist ist schöpferisch und kann sich zur Erkenntnis des Göttlichen erheben.
In Rilkes Gedicht "Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt..." bemerke ich diese Beziehungen und zusammen mit dem Dichter glaube ich, daß die Leistungen des Geistes "irgendwann Lebendigem zugute kommen"
Der Dichter konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die Wirkung unserer Gedanken und Gefühle. Die Blutmetapher ist ein Bild für die Gedankenverwandtschaft, die den Menschen, unabhängig von Zeit und Ort, gemeinsam ist. Der Inhalt der Gedanken geht in diesen Blutkreislauf der Menschheit über. Deshalb ist von großer Bedeutung, was und wie wir denken. Den Gefühlen - so scheint mir - gibt Rilke einen noch höheren Rang. Die Wirkungen der Gefühle sind unvorhersehbar und es kann sich ergeben, daß "in dem reinen Raum" unseres Mikrokosmos manchmal sogar"ein kleines Mehr von schwer und leicht / Welten bewegt und einen Stern verschiebt"
Die Wissenschaftler ordnen jetzt solche Zusammenhänge von vielfältigen Abhängigkeiten - aus den entwickelten Kulturen des Altertums - in holistische Systeme, in denen der geringste Teil Einfluß auf das Ganze ausübt und das Ganze gleichzeitig mehr als die Summe aller Teile ist. Die Konklusion für uns, die wir noch immer gebrechliche Leute sind, klingt mit dem Rhythmus des Gedichts: Wir sind hier zur großen Geistesarbeit, zum geistigen Fortschritt. Unsere Aufgabe soll "ein kleines Mehr" sein, das immerfort und rastlos im Gedankenmeer des menschlichen Geistes schwimmt.. Sie verwirklicht sich durch ständige Verwandlungen. Im Bewußtheitsozean kann gerade dies "kleines Mehr" seine Stärke vielgestaltig offenbaren in der hochgreifenden Wandlung der Welle, im Korn, ergebend die Erdengeduld, im Blitz, im stürmischen Wind... Aufmerksam lebend, werden wir in der Lage sein, zu beobachten, wie wir uns in den bewußten Schöpfer unserer Gedanken und Gefühle verwandeln.

Rilkes Gedicht "Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt..." hat mich ermuntert, ähnliche Gedanken in der polnischer Literatur zu suchen.
Ich habe im Nachlaß des größten Spezialisten im Geistbereich, dem Romantiker - Juliusz Słowacki (1809-1849) einen Beleg gefunden. In seinem philosophischen Traktat "Genesis aus dem Geist" [Genezis z ducha] schrieb er u.a.:

- ... im Meeresrauschen hört man die ständige Stimme der auf die Gestalt hinarbeitenden Wirrnis, 
hier, wo die Geister auf demselben Weg, wie einst ich, auf die Jakobsleiter des Lebens eintreten 
[1.1] 

- O! mein Geist, also in der Formlosigkeit deines ersten Ansatzes war schon Gedanke und Gefuehl. Mit dem Gedanken hast du an die neuen Formen gedacht, mit dem Gefühl und Liebesfeuer entzündet, hast du deinen Vater und Schöpfer um sie gebetet.[1.2] 

- Alles ist jedoch im Wirrsal und in der Anstrengung... Es scheint, als ob der Geist in der Verzweiflung schaffe, wenn er noch nicht von seiner Kraft und Schaffen überzeugt ist. [1.3] 

schliessend die Herleitung mit aller Deutlichkeit der Pointe:

- ... alles wird durch den Geist und für den Geist geschaffen, und nichts für den körperlichen Zweck besteht... [1.4] 

Im letzten Werk Słowackis - dem Epos "Koenig-Geist" [Krol-Duch] lesen wir:

.... mit der Erscheinung von Geistkräften
Fällt die Erde - oder sie muß sich aufstützen 
[2.1] 

Der abgenutzte Körper - und der immer jüngere Geist... [2.2] 

Unter seiner zahlreichen mystischen Gedichten sind die folgenden Fragmente beachtenswert:

Mein Koenig und mein Herr - der ist kein Stemmer (...)
Aber der erste Geist der Erde - weltherrisch. 
[2.3] 

Der Geist kannte keine Zeit, und die Zeit hatte kein Maß;
Der flog mit dem Blitz zur Ewigkeitsschwelle 
Und stand als Ewigkeit - wenn er in Gott gestanden war. 
[2.4]

Jetzt kann ich mich keiner Weltherrschaft
Unterstellen lassen - nicht deshalb, weil ich stolz bin,
Aber weil ich meinen augenlosen Geist
Seit vielen Jahrhunderten durch Sonnen und Särge führe 
[3]

Über die Geistesoffenbarung schrieb Adam Mickiewicz (1798-1855) im Gedicht "Vision" [Widzenie]: 

Ich war im uraltem Element der Elemente,
An der Stelle, woher sich alle die Geister verbreiten,
Die Welt bewegend, selbst unbeweglich:
Wie die Strahlen, die aus der Sonnenmitte
Die Ströme von Glanz und Hitze gießen,
Und die Sonne inmitten unsichtbar steht. 
[4.1]

Und im Gedicht "Veni Creator Spiritus":

Lege sich deine Seele als Tal,
Und schon fließt durch sie wie ein Fluß Gottes Geist. 
[4.2]

Ich schließe mit einem Fragment des indischen Mystikers Kabir (ca 1440-1518) in der Adaptation von Czesław Miłosz (1911-2004) "Drinnen dieses Tontopfes..." [Wewnątrz tego glinianego garnka...], über den ewigen Geist, der die Göttlichkeitssaaten in die Herzen der Menschen einsät und über das Menschentumswesen:

Drinnen in diesem Topfe erklingt die Musik der Ewigkeit und entspringt die Quelle aller Wasser. [5]



Quellen
[1.1] Juliusz Słowacki, Dzieła wszystkie pod red. Juliusza Kleinera, t.XIV, Zakład im.Ossolińskich – Wydawnictwo Wrocław 1954, Genezis z ducha – redakcja ostateczna, V.22, S.47
[1.2] V.251, S.52
[1.3] V.337, S.54
[1.4] V.790, S.64
[2.1] Juliusz Słowacki, Dzieła Wybrane I, Wiersze i poematy, PIW Warszawa 1983, Krol-Duch, Rapsod III, Pieśń I /I, V.3, S.928
[2.2] Rapsod III, Pieśń III/XXXVIII, V.8, S.979
[2.3] [Moj Krol i moj Pan – to nie mocarz żadny ...], V.1, S.102
[2.4] [Wielcyśmy byli i śmieszniśmy byli....], V.8, S.107
[3] Juliusz Słowacki, Poezje, Wydawnictwo Zielona Sowa Krakow 2005, [Teraz pod żadną światową się władzę...], S.159
[4.1] Adam Mickiewicz, Dzieła I, Wiersze, SW Czytelnik, Warszawa 1993, Widzenie, V.31, S.408
[4.2] Zdania i uwagi I, Veni Creator Spiritus, S.379
[5] Czesław Miłosz, Hymn o perle, Wydawnictwo Literackie Krakow – Wrocław 1983, Kabir, Wewnątrz tego glinianego garnka, V.4, S.93


Jadwiga Krzyżaniak hat Rilkes "Duineser Elegien" ins Polnische übersetzt und sich dabei bemüht, eine der heutigen Zeit angemessene Sprache zu finden. Sie hat auch mein Buch "Wege ins Dasein" über die "Duineser Elegien" ins Polnische übersetzt. Ich wünsche ihren Übersetzungen, daß sie einen Weg zu den Lesern in Polen finden werden!
Johannes Heiner am 29.11.2006