Gedanken zum Gedicht Todeserfahrung

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von Ulrike Sievert

Das Gedicht hat mich sehr angesprochen, weil es meine eigenen Erfahrungen in so wunderbarer Sprache wiedergibt. Rilke beschreibt, was der Tod einer nahestehenden Person im Leben der Hinterbliebenen bewirken kann. Der Tod führt dir vor Augen, dass das Leben endlich ist, dass auch du endlich und vergänglich bist. Im Lichte dieser Wirklichkeit, d.h. indem du dich dieser Wirklichkeit stellst, wird alles Leben echt und intensiv: grün wirklich grün, Sonne und Wald sind dann nur dazu da, gefühlt und geatmet zu werden, du erkennst inmitten der jahrhundertealten Bäume und unter der jahrmillionenalten Sonne deine eigene unabänderliche Vergänglichkeit mit einem siebzig-, wenn es hoch kommt achtzigjährigen Leben. Die Todeserfahrung macht, zumindest für einen Augenblick, Schluss mit dem Theater, das wir täglich abziehen - Rollen, die wir spielen, weil wir denken, wir müssten so oder so sein, um zu gefallen, um den Job zu behalten, um Anerkennung oder Liebe zu bekommen usw. Auch dem Tod haben wir eine Rolle zugedacht, in unserer Kultur ist er etwas Beklagenswertes. Aber diese Rolle entstellt ihn, denn er ist der, der unser Leben nicht nur zu einem Theaterstück macht, sondern erst zu einem wirklichen Leben - weil uns das Wissen um unsere Endlichkeit dazu bringt, wirklich mit jeder Faser unser Leben zu leben, oder, wie Rilke sagt, 'das Leben zu spielen' und nicht eine Rolle 'wie im Leben'. Ein Leben, wie es unserer ureigensten Bestimmung entspricht, egal, wie andere darüber denken, 'nicht an Beifall denkend'. Carpe diem, das lehrt mich der Tod. Das fällt schwer, wie Rilke es beschreibt, 'wir spielen weiter' unsere Rollen. Aber beim Gedenken an die Toten können wir der Wirklichkeit unserer Endlichkeit wieder ins Auge schauen. Das ist das große Geschenk, das die Toten uns machen. Bei allem Schmerz bin ich dankbar für diese Erfahrung. 
Unsere Gesellschaft schätzt Altern, Alter, Verfall und Tod nicht wert. Der herrschende Jugendwahn will diesen Aspekt des Lebens (noch) unter den Teppich kehren. Anti-Aging-Produkte legen nahe, dass Altern etwas ist, das bekämpft werden muss. Graue Haare sollen gefärbt, körperliche Verfallserscheinungen wegoperiert werden usw. Rilkes Text lehrt uns, dass erst die Anerkennung der Wirklichkeit des Todes uns zum richtigen Leben führt. Und so denke ich nicht, dass ihm die Todeserfahrung wichtiger ist als die Lebenserfahrung, wie du schreibst, sondern dass Leben unter Ausklammerung des Todes kein wirkliches ist. Wirklich in dem Sinne, dass wir unser Leben leben, nicht eines, das andere von uns erwarten bzw. eines, in dem wir uns in Rollen pressen lassen, die nichts mit unseren Sehnsüchten und Zielen zu tun haben.