Zur Einführung in die Gedichtsammlung: "Les Quatrains Valaisans"

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erschienen in Paris 1926
Die "Vierzeiler aus dem Wallis" erschaffen ein eigene poetische Landschaft. Rilke hatte den Turm von Muzot nahe Sierre im oberen Rhonetal im Herbst 1921 bezogen. Er blieb dort bis zu seinem Tod am 27. Dezember 1926 wohnen. Die Erfahrung mit den Gedichten dieser Sammmlung zeigt, dass der Zugang zu ihnen leichter wird, wenn man die poetische Idee dieser Landschaft verstanden hat. 
Rilkes Wallis ist ohne Zweifel ein "schönes Land" voller Farben und Gerüche. Rilke wird nicht müde, es in immer neuen Worten zu versichern. Wir fragen nach der Idee, die Rilkes Landschaftsgemälde zugrunde liegt. 
Der Dichter beschreibt zunächst die Struktur des Zeit-Erlebens und der Räumlichkeit. Er gewinnt sie auf dem Wege der Abstraktion von den konkreten Einzelheiten. Die Struktur der Zeit wird durch das Läuten der Glocken vermittelt. Das Glocken-Läuten regelt den Ablauf des Alltags für die Menschen, die hier auf dem Lande leben. Der Tag steuert auf den Abend zu, wenn nach dem letzten Läuten alles ruhig wird. Die Wochentage ihrerseits steuern auf den Sonntag zu als dem siebten Tag der Ruhe. Die Struktur des Raumes ist offensichtlicher. Die Landschaft des Tales wird vom Himmel bestimmt. Der Himmel scheint die Landschaft erbaut zu haben. Rilke kannte den unendlichen Himmel von seinen Aufenthalten in der Provence und von Spanien her. Im Wallis fand er ihn wieder. 
Beide Strukturen werden schließlich in dem Versuch verbunden, die Landschaft zu vergöttlichen. Die von Rilke beschworenen Göttinnen und Götter sind heidnischer Herkunft. Rilke hatte sich mit seinem "Brief eines jungen Arbeiters" (1922) vom Christentum los gesagt. Aus der Vergottung der Landschaft leiten sich die Eigenschaften der Klarheit, Einfachheit und der Stille ab. Die Gottheit hat sich der Landschaft sozusagen hingegeben. Wer in der Landschaft weilt, ruht im Herzen der Gottheit. Rilkes gühender und auf das Wesentliche gerichteter Blick hat die in die Landschaft eingeschlossene Gottheit aus ihrem Schlaf befreit. 
Literarisch gesehen, wird man sich an die erst eineinhalb Jahre zurück liegenden "Sonette an Orpheus" erinnern. Die Sonette waren dem Gott Orpheus dargebracht worden, dessen Körperteile bei seiner Ermordung durch die Furien der Legende nach über das Land ausgebreitet worden sind. Die "Sonette" wirken also nach. Wichtiger noch scheint mir allerdings die Inspiration zu sein, die das poetische Werk von Paul Valéry für Rilke bedeutet hat. Rilke war 1921 auf das "Grab im Meer" von Valéry gestoßen. In seiner Begeisterung hat er gleich damit begonnen, das umfangreiche Werk zu übersetzen. Mit der Dichtung Valérys war er auf eine kongenialen Deutung der Welt aus dem Geist der heidnsichen Götter gestoßen.