1,19 „Wandelt sich rasch auch die Welt“

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Das Sonett kehrt zum „Gott mit der Leier“ zurück und fasst die Botschaft in klare, einprägsame Worte. Wir erinnern uns, der Leichnam von Orpheus wurde über alle Dinge verstreut. Alle Dinge der Erscheinungswelt haben die Energie des orphischen Gesangs aufgenommen. Der Gesang des Dichters Rilke sammelt wie einen Schatz die zerstreuten Glieder des Orpheus auf und bündelt sie zu einer Heilsbotschaft. Der aufmerksame Betrachter der Natur wird sie in Baum, Blume, Felsen, Tiere entdecken können. Er ist „weiter und freier“ als das Dröhnen der modernen Maschinen, weil er ein Heilwerden wie damals, als Orpheus noch die Menschen und Tiere mit seinem Gesang verzaubert hat, verspricht.

An dieser Stelle, wo es um das Heil der Seelen geht, scheint es mir geboten, auf die Unterschiede zwischen Orpheus und Christus hinzuweisen. Das Sonett ist sprachlich wunderbar durchgearbeitet und überzeugt, so wie es ist. Aber Orpheus ist nicht Christus, auch wenn Rilke ihn in die Nähe zu Christus rückt. Rilke hat mit dem Christus seiner Kindheit gebrochen. Näheres dazu findet die interessierte Leserin im „Brief an einen jungen Arbeiter“, der gleichzeitig mit den „Sonetten an Orpheus“ geschrieben wurde. Rilke rechnet in diesem „Brief“ mit dem engen Katholizismus seiner Kindheit ab. Man kann verstehen, dass er nach einem Ersatz gesucht hat. Der Orpheus-Mythos samt den geheimnisvoll im Hintergrund stehenden orphischen Mysterien hat sich dafür angeboten.

Als in diesem Sinn störend empfinde ich die Formulierung „einzig das Lied überm Land / heiligt und feiert“. Der Weg über die Naturerfahrung ist real und sinnvoll und er kann zu einem Erlebnis der Einheit führen. Aber er ist nicht der einzige Weg. Rilkes apodiktische Formulierung ist deshalb mit Vorsicht zu genießen.

Sehr überzeugend hingegen die Verse:

„Nicht sind die Leiden erkannt,

nicht ist die Liebe gelernt,

und was im Tod uns entfernt,

ist nicht entschleiert.“

Da kann ich dem Dichter nur zustimmen. Die Menschen leiden auch heute noch vielmals, ohne zu erkennen, dass das Leiden eine spirituelle Botschaft enthalten kann, die es zu lesen und zu befreien gilt. Das Leben kann durch eine Krankheit, die erkannt wird, eine neue Richtung einschlagen. Ähnlich ist es mit den Lektionen, die uns die Liebe erteilt. Wir beziehen „Liebe“ meist nur auf die geschlechtliche Anziehung von Mann und Frau. Doch es gibt auch Liebe zu den Dingen und Liebe zum Leben. „Liebe“ erscheint in diesen Zuständen freier von Objekten. Sie hat die Richtung auf Befriedigung und Erfüllung verloren und gedeiht in selbstlosen Herzen.

Rilke formuliert in seinem „Glaubensbekenntnis“ noch einen dritten Schwerpunkt, der sich auf seinen Umgang mit den Toten bezieht. Er hat sich sein Leben lang darum bemüht, eine Brücke zu den Toten zu schlagen. Rilke war mit einer großen Feinfühligkeit ausgestattet. Sie erlaubte ihm, seine Antennen auf Dinge zu richten, die dem normalen Empfinden verschlossen bleiben. Die Anziehung zum Orpheus-Mythos kommt wohl auch von hier her, dass Orpheus im Totenreich geweilt hat.

 

© Johannes Heiner, November 2012

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