1,22 „Wir sind die Treibenden“

Drucken

Wieder zum hymnischen Tonfall des Orpheus zurückkehrend, bringt das Sonett einen weiteren Wink auf das Wesentliche. Der Dichter nennt es, mit Anklang an Hölderlin, „das immer Bleibende“, das sich dem Menschen erst in der Einsamkeit und Stille offenbart. Es hat damit noch eine weitere Bewandtnis: es schließt die entgegen gesetzten Pole zusammen. Es übersteigt „Dunkel und Helligkeit, / Blume und Buch“. Das Bleibende übersteigt die Zeitläufe und reicht weiter als die kurzfristigen, auf rein materielle Befriedigung ausgerichteten Bemühungen des Menschen.

Wir sind zwar „die Treibenden“, wir treiben uns an, voran, hintertreiben die Wahrheit, untertreiben unsere Selbstdarstellung, damit wir wenigsten etwas Lob einkassieren. Aber unser Tun stößt auf Grenzen. Nicht durch Willensanstrengung gelangen wir in den Bereich außerhalb der Zeit. Das Sein wird dem Menschen offenbart, der die Einsamkeit fern des Maschinenlärms aufsucht und sich der Stille als d e r Quelle für die Offenbarung des Göttlichen zuwendet.

Der Dichter Rilke lebte seit dem Herbst 1921 im „Château de Muzot“, wie er es etwas großspurig genannt hat. In Wirklichkeit hatte er sich in einen alten Wohnturm in Muzot bei Sierre im Oberwallis eingemietet und -geschlossen und wartete auf den Durchbruch, der sich im Februar 1922 ereignete. In den Jahren zuvor hatte er sich mit der Kunstform des Sonetts vertraut gemacht. Allerdings handelte es sich um Übertragungen aus dem Französischen, Italienischen und Portugiesischen. Nun sprach der Gott Orpheus zu ihm und Rilke verwandelte sich in den Gott mit der Leier. Der Orpheus-Mythos war ihm ja bestens bekannt. Es ist Orpheus, der das Sonett spricht.

So ist es zu erklären, dass Rilke seinen großen Gesang mit erstaunlicher Kunstfertigkeit in die Form des Sonetts gießen konnte. Er hat mehrere Sonette an einem Tag geschrieben und wenig korrigiert. Er hat für die insgesamt 57 Sonette (erster und zweiter Teil zusammen!) nur 2 Wochen gebraucht! Dieser Gesang thematisiert das Grundlegende in der Existenz des Menschen: sein Wurzelwerk, aus dem er die Lebenskraft schöpft, das Zu-sich-selbst-Finden in der Zurückgezogenheit, das überzeitlich Bleibende, zu dem er vorstoßen kann.

Ich bewundere die Geduld, die der Dichter Rilke mit sich selbst hatte. Was für ein demütiger und letztlich auch vertrauender Mensch er gewesen sein muss, dass er sich nicht schon längst die Pistole vor den Kopf gehalten hat! Demütig vor dem wirklichen Sein, das die Grenzen der Zeit und des Ortes übersteigt, und als dessen Sprachrohr er sich verstand.

 

© Johannes Heiner, November 2012

<< zurück