Das Atemgedicht

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2 XXIX

 

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
laß dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidenste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.

 

Lesen Sie auch die Meditation zum Atem-Gedicht aus den "Sonetten an Orpheus".

 

 

Am Ende des zweiten Zyklus der "Sonette an Orpheus" steht eine Perle von einem Gedicht. Es hat mir vor Jahren einen Zugang zu den ansonsten doch schwer verständlichen Sonetten an Orpheus eröffnet. Beschwörung sowohl des Orpheus als auch Trost spendend für das Ungemach des Lebens als auch Mut machend für die Erfahrung des Leids.
Schwer verständlich ist eigentlich nur der Schluss. Bis dahin kann jeder gut folgen, der sich seines Lebens bewusst geworden ist. Bis dahin kann jeder die Bilder genießen: von der Glocke, die das Leid läutet, vom Ein- und Ausgehen in der durch das Aushalten des Schmerzes geschehenden Verwandlung; von der "Zauberkraft" am Kreuzweg der Sinne, wenn diese durch die Erfahrung der Nacht für das übersinnliche geöffnet werden.
Wie also den Schluss deuten? Es ist ja nicht irgendein Schluss, sondern der Schlussstrich unter das Spätwerk von Rilke in deutscher Sprache.

 

"Und wenn dich das Irdische vergaß,"

Hier finden wir uns unverhofft bei der Erfahrung der Einsamkeit wieder. Man denke an die Verlorenheit der "Fahrenden" auf ihrem Teppich im Weltall in der "Fünften Elegie" oder an die Gedichte zum Thema Einsamkeit in den "Neuen Gedichten" aus der Zeit um 1900 bis 1902, als Rilke sich von Lou löste. Es kann schon vorkommen, dass das Irdische, die Freunde, die Familie, ja selbst Gott "uns vergisst" oder wir zumindest den Eindruck haben, dass es so sei: wir leben für die Dauer dieses Zustandes in der tiefsten Finsternis und es schleichen nicht selten die Gedanken noch Selbstmord heran.

"zu der stillen Erde sag: Ich rinne."

Die Erde schaut unseren Gefühlen mit Langmut zu. Sie erträgt die Verrücktheiten des Menschen mit Geduld. Aber wieso spricht das lyrische Ich das Gegenteil von dem, was der Leser erwarten würde? Man erwartet ein: Nimm-mich-auf oder: Gib mir-einen-Platz-für-die-letzte-Ruhe.

 

"Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin."

Hier wird die Erwartung ein zweites Mal enttäuscht. Eigentlich sollte es von der Erde heißen: Ich bin, und vom Wasser: ich rinne. Warum vertauscht?
Ich meine, eine Antwort zu haben. Sonst hätte ich diese Besprechung nicht so kunstvoll auf diesen Höhepunkt hin angelegt. Die Antwort liegt im Wesen des Orpheus begründet, der ja dieser und jener Welt angehört, den "beiden Reichen", wie es im Sonett 1,VI heißt:

"Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden
Reichen erwuchs seine weite Natur.
"

Die "beiden Reiche" sind die Erde und das Schattenreich der Toten. Wenn Orpheus sich "im Schattenreich" aufhält, sucht er nach dem Leben auf der Erde. Wenn er unter den Lebenden auf der Erde wandelt, sehnt er sich nach dem Schattenreich. Dasselbe Muster wurde auf die Elemente übertragen. Angestrebt wird das Ganze und Eine.

© Dr. Johannes Heiner, 10. Dezember 2004