Lesehilfen zum Glasperlenspiel

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Gliederung:

1. Die Entstehung

2. Die Intentionen des Erzählers

3. Zum Erwachen des Josef Knecht

4. Mögliche Anwendungen in der Praxis

 

1. Die Entstehung 

Besuch beim Erzähler des Glasperlenspiels

Zum Glück war ich angemeldet. Trotzdem war mir bange zumute, als ich auf die Klingel an der Pforte zur Casa Rossa in Montagnola/Tessin drückte. Es war ein Zettel daran geheftet: Besuche unerwünscht. Aber wie gesagt, ich war ja angemeldet. Mit diesem Gedanke versuchte ich mich zu beruhigen.

Wie ich im Nachhinein weiß, kam die Aufregung, die von mir Besitz ergriffen hatte, daher, dass ich genau wusste, wie sehr Hesse im Nazideutschland angefeindet wurde. Für die Meisten war er ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, das sich hartnäckig gegen den eigenen Untergang sträubte. Doch für mich, den jungen, aufstrebenden Autor war er der Meister. So wie er erzählen und schreiben zu können, das schien mir das Höchste zu sein.

Es dauerte ein Weile, bis das Klingelzeichen Wirkung zeigte. Endlich kam er den Weg zum Tor geschritten. Im Hintergrund wurde das rosa gestrichene Haus sichtbar. Es lag auf einem Weinberghügel, wie eine Burg, verschanzt gegen die Außenwelt.

„Sind Sie angemeldet?“ war seine erste Frage. Ich bejahte und fügt gleich hinzu, dass ich für eine Studentenzeitung aus Tübingen käme. „Aus Tübingen?“ fragte er mit einem unverkennbaren schwäbischen Zungenschlag zurück. „Aus Tübingen?“, wiederholte er noch einmal, ganz ungläubig. Ich bejahte mit einem Nicken meines Kopfes. Er kam zum Gitter und schloss das Tor auf. Er drückt mir beherzt die Hand: „Dann hatten Sie eine weite Reise!“ rief er aus. „Ja, sagte ich“, und freute mich herzlich über die Anteilnahme des berühmten Mannes.

Man stelle sich Hesse mit fünfundfünzig bis sechzig Jahren vor. Er steht vor mir, der Rollkragenpullover schlottert leicht an dem mageren Körper. Hesses Blick ist durchdringend und dem eines Beutevogels nicht unähnlich. Doch sobald er spricht und dabei seinen schwäbischen Zungenschlag gar nicht erst zu verleugnen sucht, wirkt er als Mensch und man fühlt sich wohl. Wir steigen in die zweite Etage des Hauses hoch, dort befinden sich die beiden Arbeiträume. Wir betreten den großen Raum. Er ist  mit Büchern, Handschriften und Bildern vollgestopft. Kein Platz an den beiden Wände des Arbeitszimmers ist ungenutzt geblieben. Es führt auf einen Balkon mit Sicht auf die tessiner Berge, Seen und Täler. Der Schreibtisch steht quer zum Fenster. Ich kann mir gut vorstellen, wie Hesse sich am Anblick der Natur labt und wie er Kraft für seine Arbeit daraus schöpft. Auf der Arbeitsplatte thront die Schreibmaschine Marke Adler. Neben der Maschine liegt ein Packen bräunlichen Papiers im DINA 4 Format. Offensichtlich ist Hesse mit der Reinschrift zu seinem „Glasperlenspiel“ befasst. Er selbst ein Glasperlenspieler, der die Manuale der europäischen und asiatischen Geistesgeschichte mit umsichtiger Kenntnis bedient. Auf dem kleinen Tisch mit den beiden Sesseln liegen Zeitungen aus Deutschland vom 21. September 1940. Sie verkünden die Siege der Deutschen Armeen.

Hesse kommt ohne Umschweife zu seiner Einschätzung des Krieges. „Diese Siege“, sagt er, „sind ebensoviele Niederlagen des deutschen Geistes. Wir, die Gebildeten, müssten uns schämen, dass wir den Hitlerunfug nicht vereitelt haben. Aber, ich bin der festen Meinung, führt er aus, diese Siege werden von kurzer Dauer sein. Auch Napoleon ist daran gescheitert, die Welt zu erobern. Und Napoleon war ungleich gescheiter als Hitler. Wissen Sie, junger Mann, was die treibende Kraft dieses Krieges ist? Ich verneinte. Darauf Hesse: Es ist die unersättliche Gier der Nazibonzen. Sie wollen große Männer sein. Aber in Wirklichkeit sind sie Spießbürger, verbrecherische, und feige, weil sie aus der Sicherheit ihrer Bunker heraus morden.“

Es trat Stille ein. Ich spürte den zähen Willen Hesses, den Krieg zu überwinden. Ich fragte ihn: „Was können Sie denn von der Schweiz aus schon ausrichten? Wie soll die deutsche Jugend Sie denn hören, wenn Ihre Bücher nicht mehr in Deutschland gedruckt werden?“

Die Frage brachte Hesse für kurze Zeit in Verlegenheit. Dann straffte er seinen Oberkörper und sagte: „Ich schreibe das Glasperlenspiel für die Zeit danach. Mehr kann ich nicht tun.“

Mir wollte diese Aussage nicht gleich einleuchten. Ich dachte damals, dass man die Verbrecher mit der Waffe in der Hand bekämpfen müsse. Doch ich spürte, dass es keinen Wert haben würde, ihm, dem viel Erfahreneren, einen solchen Gedanken zu eröffnen. Es war ja allgemein bekannt, dass Hesse Pazifist war und noch nie Hand an eine Waffe gelegt hat.

Ich lenkte das Gespräch auf das „Glasperlenspiel“ und schaute in Richtung auf den Schreibtisch. Ich fragte ihn, warum er denn selber tippte?

Hesse strich sich über das Gesicht. Jetzt lächelte er, als er sagte: „Ich würde meinen Augen einen großen Gefallen tun, wenn ich eine Sekretärin einstellen würde. Aber ich brauche das Tippen auf der Maschine, um den Wortlaut noch einmal zu prüfen. Mir fallen beim Tippen immer noch neue Formulierungen ein, die übernehme ich dann gleich in den laufenden Text.“

Er kam noch einmal für die Siege der Deutschen zurück. Er wisse aus der Geschichte, dass solche Siege, wie die mit Pomp vermeldeten der Deutschen, nur von kurzer Dauer sein würden. Und was wird dann sein? Wird es nicht ähnlich sein wie nach 1918, als die vom entsetzlichen Gemetzel auf den Schlachtfeldern verwirrten jungen Männer den Glauben an geistige Werte verloren hatten und sich dem Nihilismus und Materialismus hingaben? In seinen Augen hatte die intellektuelle Elite der Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg versagt. Sie hatten es nicht geschafft, den Deutschen einen Weg in eine menschenwürdige Zukunft zu weisen.

Hesse nahm seine Pfeife auf und zündete sie an. Er sprach mit Wohlgefallen von den Jahren seines unermüdlichen Schaffens nach dem ersten Weltkrieg. Es war ihm in seinen Artikeln, Aufrufen und Betrachtungen darum gegangen, die lesende Hälfte der deutschen Nation wachzurütteln. Doch mit geringen Erfolg, wie er sich jetzt eingestehen musste. Man hatte es ihm in Deutschland übel genommen, dass er sich in der Schweiz in Sicherheit gebracht hatte. Man wollte sich von einem solchen „Verräter“ nicht dreinreden lassen. Seit damals habe sich im Prinzip wenig geändert. Die Nazis würden seine Bücher unterdrücken. Wie zum Beweis seiner Aussage ging er in das andere, kleiner Zimmer und holte das Anschreiben der Reichszensurbehörde. Sie teilte dem Autor des Glasperlenspiels lakonisch mit, dass der Druck des „Glasperlenspiels“ nicht gestattet werde.

Hesse war klar, dass der Krieg nicht nur die Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und Häuser der Deutschen zerstören würde. Er würde wieder tiefe Wunden in den Menschen hinterlassen. War es da nicht sinnvoll, sie darauf vorzubereiten, dass es das Reich des Geistes und Werte wie Freiheit, Würde und Ehrlichkeit gab, die von ewiger Gültigkeit für die Menschen sind?

Bei diesen Ausführungen schien Hesse in seinem Sessel mir gegenüber ins Unermesslich zu wachsen. Er machte mir Mut, den Kampf mit den Wörtern für ein besseres Leben daheim in Tübingen wieder aufzunehmen. Nie werde ich den Meister, sein feines Lächeln und sein charmantes Schwäbeln, vergessen.

© Johannes Heiner 2009

 

>> 2. Die Intentionen des Erzählers