Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens

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Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du's?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewusstseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung.- Aber 
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens...

Geschrieben am 20.September 1914. 
Dieser Text gilt als Eröffnungsgedicht zu den "Duineser Elegien". Wie in den "Elegien" liegen die Haltungen der "Klage" und der "Rühmung" dicht beieinander. 

 

Einmal noch kam zu dem Ausgesetzten,
der auf seines Herzens Bergen ringt,
Duft der Täler. Und er trank den letzten
Atem wie die Nacht die Winde trinkt.
Stand und trank den Duft, und trank und kniete
noch ein Mal.
Über seinem steinigen Gebiete
war des Himmels atemloses Tal
ausgestürzt. Die Sterne pflücken nicht
Fülle, die die Menschenhände tragen,
schreiten schweigend, wie durch Hörensagen
durch ein weinendes Gesicht.

Nr. VI im Gedichtheft für Loulou 

Geschrieben am 22. September 1914. 
Die neue Liebe Rilkes zu Lou Albert Lasard zeigt sich in der positiveren Ausrichtung des Gedichts. Die Reime tragen dazu bei, daß es gefälliger wirkt.