Erläuterungen zur "Fünften Elegie"

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Dr. Johannes Heiner, März 2004

 

Beachten Sie auch die Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."

 

(Die Zahlen bezeichnen die einzelnen Strophen. Die Nummern hinter den Sätzen verweisen auf den Anmerkungsteil.)

 

1

"Wer aber sind, sag mir, die Fahrenden" - Hervorhebung, dass es in dieser Elegie um die Frage geht, was das wirklichen Sein der Akrobaten ausmache: nicht das, was man sieht, sondern was dahinter steht. Wird in der nachfolgenden Frage konkretisiert: wem zu Liebe nehmen sie dieses ihr Leben auf sich? Die Antwort des Dichters findet sich am Schluss in der zehnten Strophe: "und plötzlich die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig unbegreiflich verwandelt" 
"kommen sie nieder auf dem verzehrten Teppich" - Das Teppichmotiv kehrt am Schluss wieder. Hier wird durch das Bild des Teppichs im Weltall u.a. die Verlorenheit der Artisten ausgedrückt. Man beachte die Zartheit des Pflaster-Bildes. Es ist überhaupt zu bemerken, wie einfühlend und nachhaltig der Dichter am Leid der Artisten Anteil nimmt. 
"..des Dastehns großer Anfangsbuchstab" - Auf dem Bild von Picasso stehen die Artisten wie verwurzelt mit der Erde da. Ich denke, dass sie das brauchen, damit sie bei ihren Luftsprüngen wieder auf ihre Füße fallen. 
Romano Guardini bezieht sich auf eine Redewendung Rilkes. Wenn er eine schöne Frau sah, soll er gesagt haben: da steht der Schönheit Anfangsbuchstabe. Gemeint ist: sie ist schön, aber wird sie in ihrem Leben auch etwas daraus machen? (1) 
"der immer wieder kommende Griff rollt sie, wie August der Starke bei Tisch einen zinnenen Teller" - so wäre die grammatikalisch "richtige" Reihenfolge. Der "niemals zufriedene Wille" vom Anfang der ersten Strophe kehrt hier als Griff wieder, unter dessen Kontrolle das Leben der Fahrenden steht.

2

"..um diese Mitte" - worauf bezieht sich der Satz? Die rollenden Zinnteller bzw. die Artisten bilden eine unsichtbare Mitte, um welche herum die Zuschauer kommen und gehen. Das erinnert an die Bewegungen einer Rose beim Aufblühen und Verwelken. 
"Scheinfrucht Unlust scheinlächelnden Unlust" - Die Bemühungen der Artisten um gute Laune und angenehme Atmosphäre werden als scheinhaft durchschaut. Ihr Lächeln ist nicht echt. Neben dem "Teppich" wird hier das zweite zentrale Motiv dieser Elegie angeschlagen. Das Lächeln der Artisten wird Thema bei dem Jungen in der sechsten Strophe und dann dem Engel dargeboten und bei den Liebenden am Schluss. 

3-8

"die ein Leid als Spielzeug bekam" - Das Leid erhielten die Künstler als Spielzeug, das heißt: die Artisten sind von früh auf an das Leid gewöhnt - der Dichter bekundet seine Anteilnahme am schweren Los der Künstler in unserer Gesellschaft. 
"blindlings das Lächeln" - Der Junge wird hier in seiner leiderfahrenen, dunklen, dem Bewusstsein abgewandten Seite charakterisiert. Er setzt ein Lächeln auf, um einen guten Eindruck zu machen. Das Lächeln ist noch immer ein Lächeln der "Unlust". Es wartet auf seine Verwandlung durch den Engel. "Subrisio Saltat" - Er springt und lächelt.
Das konventionelle Lächeln wird eines Tages in ein wahres Gesicht voller Humor und Verständnis verwandelt werden. Dieser Hoffnungsschimmer wird durch die Übergabe des Lächelns an den Engel und die Verwahrung in der Urne hervorgerufen. 
"Du dann Liebliche" - könnte sich theoretisch auf die Mutter beziehen, nach der der Junge in der Strophe zuvor Ausschau hält. Dem steht die Physiognomie des Mädchens entgegen. Mit der Umschreibung "von den reizendsten Freuden stumm Übersprungene" bezieht sich der Dichter auf die verpasste Kindheit der jungen Artisten. Rilke sieht sie sowohl bei dem Jungen, als auch bei dem Mädchen. "Markfrucht des Gleichmuts" - charakterisiert sowohl die Haltung der Zuschauer, deren Blicken das Mädchen ausgesetzt ist, als auch die innere Haltung des Mädchens, das seine Schamgefühle überwunden hat. 

9-12

"Wo, o wo ist der Ort" - diese Stelle leitet die Verinnerlichung des Schauplatzes ein. Dazu übergeleitet hat das Mitgefühl des Dichters mit den Artisten.
"Und plötzlich jenes leere Zuviel. Wo die vielstellige Rechnung zahlenlos aufgeht." - Wird hier ein Gelingen der künstlerischen Darbietung angedeutet? Oder nach dem "Zuwenig" das "Zuviel" des Wollens und Könnens? Der Nachsatz: Wo die vielstellige Rechnung aufgeht, spricht für das Gelingen. Im Gelingen erreicht die Kunst die höchste ihr mögliche Form des Da-Seins. 
"Madame Lamort" - Wo Leben gelingt, da ist der Tod nicht fern und begehrt Einlass. Madame Lamort ist Frau Tod. Sie räumt mit der Unwahrheit und mit den Halbwahrheiten auf. 
"Engel: Es wäre ein Platz" - knüpft an die Zeile an: "Wo. o wo ist der Ort". Es folgt eine Vision der Möglichkeit der Künstler als Liebende und der Liebenden als Künstler. 
"unzähligen lautlosen Toten"- Man könnte geneigt sein, diese Vision im Reich der Toten anzusiedeln. Doch wäre entgegenzuhalten, dass der Ort sich im Herzen des Menschen befindet. "auf unsäglichem Teppich" - "auf gestilltem Teppich" - Die letzte Strophe knüpft damit und mit dem Thema Liebe an den Anfang an. Man beachte die Veränderung im Verhältnis zum "verzehrten Teppich" der ersten Strophe. 

Anmerkungen


1) Zitiert von Romano Guardini S.169