Erläuterungen zur "Zweiten Elegie"

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Dr. Johannes Heiner, März 2004

 

Beachten Sie auch die Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."

 

(Die Zahlen bezeichnen die einzelnen Strophen. Die Nummern hinter den Sätzen verweisen auf den Anmerkungsteil.)

 

1

"fast tödliche Vögel der Seele" - Engel besitzen für ihre Botendienste Flügel. Der Vergleich mit den Vögeln liegt deshalb nahe. Rilke benutzt den Vergleich schon in den "Engelliedern" der frühen Gedichtsammlung "Mir zur Feier". 

"wohin sind die Tage Tobiae" - Anspielung auf das Buch Tobit im AT. Tobit, der Vater, sendet seinen Sohn Tobias mit einem fremden Jüngling aus, der in Wirklichkeit der Erzengel Raphael ist. Der Engel beschützt den Jüngling während der Reise und heilt den alten Vater bei der Rückkunft. 

2

"Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung" - Dieser Lobpreis der Engel. gehört zu den Höhepunkten der "Duineser Elegien". Man achte auf die besondere Rhytmisierung: ´-- (Hebung auf der ersten Silbe, Senkung mit der zweiten und dritten Silbe). Der Rhythmus des Daktylus wird mit "und plötzlich" unterbrochen. 
"Pollen der blühenden Gottheit" - die Pollen sind die Samen. Damit wird die Idee der Fruchtbarkeit unterstrichen. Das Gedicht über Franz von Assisi am Ende des "Stundenbuches" zeigt das Entzücken des Heiligen an der Erde. Man findet dort auch die Begriffe "Pollen" und "Samen". Das Geschlechtliche wird nicht geleugnet, sondern vergeistigt. 
"Gelenke des Lichts" - drückt die unruhige Bewegung der Lichtstrahlen aus, vielleicht auch ihre Brechungen. 
"Räume aus Wesen" - gemeint sind mit Wesenhaften gefüllte Rräume, nicht die "leeren" und "fremden" Räume z.B. in der Stadt (siehe die zehnte Elegie) 
"Schilde aus Wonne" - Die Vorstellung ist, dass die Wonne einen Schild bildet, der die Wesen beschützt - Wir erinnern uns an die traditionelle Vorstellung, dass die Engel im Himmel "Hallelujah" singen und um Gottes Thron tanzen. 
"Spiegel" - Die Engel spiegeln sich selbst und erleiden dadurch keinen Verlust an Energie. Die Menschen hingegen "strömen sich aus", bis sie nicht mehr sind. Die Vorstellung, dass die Engel wie Spiegel sind, findet sich u.a. schon bei Hildegard von Bingen. Sie sind Spiegel in mehrfacher Hinsicht: sie spiegeln Gott, und sie spiegeln die Menschen, von denen sie erschaut werden. Rilkes Vorstellung vom Spiegel des Selbst ist eigenwillig und neu. Interessant wäre ein Vergleich mit dem Spiegelkabinett in Hermann Hesses "Steppenwolf". 

3

"verflüchtigen" - gemeint ist: wir verflüchtigen uns, wir vergehen. Der Weltraum nimmt uns auf.

4

"daß uns alles verheimlich" - dass uns alles verbirgt.

5

"o wie entgeht dann der Trinkende seltsam der Handlung" - Wird die Liebe habitualisiert, wird sie banalisiert. Es entsteht dann eine neue Zweiheit von Handlung und Person. Das Bewusstsein der Einheit mit der Geliebten geht verloren. 

6

"auf attischen Stelen" - griechischen Grabmälern, die Rilke in Italien gesehen hat. Dieser letzte Teil der zweiten Elegie ist am schwierigsten zu deuten. "diese Beherrschten" - die alten Griechen als Vorbilder. "Attisch" steht für Athen, die Stadt, die für ganz Griechenland steht. Man erinnere sich an Winckelmann, Schiller, Goethe und Hölderlin mit ihrem Griechen-Kult. Sie bewunderten an den Giechen die "edle Einfalt und die stille Größe". Doch gehört dies der Vergangenheit an. Und andererseits auch wieder nicht, denn das "eigene Herz übersteigt uns noch immer wie jene". Es braucht die Bändigung durch die Kunst im Sinne des apollonischen Gestaltungswillens. Die Lehre vom "Apollinischen" und dem "Dionysischen" wurde von dem Philosophen Friedrich Nietzsche in dem Buch "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" entwickelt.