Erläuterungen zur "Vierten Elegie"

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Dr. Johannes Heiner, März 2004

 

Beachten Sie auch die Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."

 

(Die Zahlen bezeichnen die einzelnen Strophen. Die Nummern hinter den Sätzen verweisen auf den Anmerkungsteil.)

 

1

"O Bäume Lebens, o wann winterlich?" - Klagende Feststellung, dass das Leben des Menschen, das mit einem aufwachsenden Baume verglichen wird, unausweichlich dem Altern und dem Verfall ausgesetzt ist. "Wir sind nicht einig." - Das Bewusstsein des Menschen ist unglücklich. Nie ist der Mensch zufrieden mit dem, was ihm gegeben ist. Er will immer mehr und anderes, als das, was vor ihm steht. Wir sind nicht einig mit uns selbst und mit unserem Leben. 
"Blühn und Verdorrn ist uns zugleich bewusst." - Wieder eine Aussage über das Bewusstsein des Menschen. Es springt von dem einen zum anderen Sachverhalt und vermischt die Vergangenheit mit der Zukunft. Das freie Tier - der Löwe steht dafür - lebt ganz im Augenblick. "Das freie Tier hat seinen Untergang stets hinter sich" (die achte Elegie). Der Mensch lebt in der Reflexion und hat sich dadurch aus dem Naturzustand entfernt. 

2

"des andern Aufwand" - In dem einen Zustand ist schon das Gegenteilige mit enthalten. Im Überschwang der Liebe kann sich z.B. schon die Aggression ankündigen. 
"an Ränder" - an Grenzen. Liebende bekämpfen sich gegen ihren Willen, wenn sie sich vom Anderen nicht mehr geachtet fühlen. 
"den Kontur des Fühlens" - den ganzen Umfang, die ganze Tiefe des Gefühls.
Für Rilke gehört die geheimnisvolle Seite der Natur und des Lebens zum "Kontur des Fühlens" dazu. Er hat die "andere Seite der Natur" in immer neuen Worten ausgedrückt. 
".. und schwankte leise" - deutet darauf, dass es sich um eine Vorstellung in der Fantasie handelt. Könnte auch sehr direkt die Kulisse auf der "Bühne des Abschieds" meinen. 
"Nicht d e r." - Rilke hat der Fürstin Marie Taxis am 21.Juni 1911 von einer Theateraufführung des Balletts mit dem berühmten Tänzer Nijinski berichtet. Die Szene spielt im Garten. Die Anspielung auf diesen Brief dürfte der Fürstin beim Lesen der Elegie nicht entgangen sein. 
"lieber die Puppe" - Die Puppe hat gegenüber dem Zwitterwesen Mensch den Vorteil, dass sie ohne Seele ist. Mit "Balg" drückt der Sänger der Elegie seine Verachtung aus. 
"der Knabe mit dem braunen Schielaug" - Guardini rekonstruiert in seinem Kommentar S. 135, dass die Stelle den kleinen Eric Brahe aus dem "Malte" bzw. den Vetter Egon aus Rilkes Biografie meint. Beide hatten nachweislich braune Schielaugen. 
"Es giebt immer Zuschauen" - Auch wenn die Bühne des Innern leer wird, bleibt der Subjektpol aus der Subjekt-Objekt-Spaltung als beobachtender Zeuge bestehen. 

3

"mein beschlagenes Aufschauen" - Der Sohn steht vor dem Vater und traut sich nicht richtig, diesen anzuschauen. Er ist "beschlagen" wie eine Glasscheibe im Winter. Der Knabe fühlt den Druck des Müssens, der vom Vater ausgeht, und trotzt dagegen.Vielleicht durften die Kinder den Eltern früher nicht ins Gesicht schauen. 
"für mein bißchen Schicksal" - Die Fürsorge des Vaters wird ähnlich der Zuneigung durch die Mutter ambivalent erlebt. Auf der einen Seite steht der Druck des Müssens (s.o.). Auf der anderen Seite die Sorge um das Kind. Sie veranlasste den Vater, den Gleichmut des Todes abzulegen. Allerdings relativiert der Dichter diesen Gedanken, indem er ihn "in seine Hoffnung" hineinverlegt. "überging in Weltraum" - kosmische Erweiterung ähnlich dem "Teppich im Weltall" aus der fünften Elegie. 
"Engel und Puppe" - Im gewöhnlichen Bewusstsein treten das Überbewusste (der Engel) und das Unterbewusste (die Puppe) auseinander. Die Stelle hier deutet das Zusammenfallen des Gegensatzes in einer Art paradiesischem Urzustand an. Die Vorstellung geht auf Kleists "Marionettentheater" zurück.1 
"Über uns hinüber spielt dann der Engel" - Der Engel hat die Eigenschaft, sich im All frei bewegen zu können. Er ist ein Grenzgänger zwischen den Sphären des Menschen und der Toten. Er verkörpert das Schicksal und hält den Lebensfaden des Menschen in seiner Hand. Der Mensch erscheint als eine Marionette des Engels. 
"der Umkreis des ganzen Wandelns" - Der Dichter befindet sich hier auf der Suche nach Bildern für das Ganze des Daseins. 
"Über uns hinüber spielt dann der Engel" - Das Leben übersteigt sich selbst.
"O Stunden der Kindheit" - Dieser Abschnitt leitet die Suche des Dichters nach der "verlorenen Zeit" ein. 2) Das Kind steht für das Ganze eines noch reinen Bewusstseins, das glücklich in sich selbst ruht. Die Reflexion, das bewusste Denken zerstören diese Einheit und erzeugen den Zwiespalt. Der sich selbst fremd gewordene Mensch begibt sich auf die Suche nach einem dritten Zustand der Bewusstseinsvereinheitlichung z.B. in der Meditation. 

4

"Wer zeigt ein Kind" - Figur der kosmischen Erweiterung. Der Sänger erhebt die Kinder zum Sternenbild. Er macht sich Sorgen, ob sie den rechten Abstand, das rechte Bewusstsein, haben. Die Kinder erscheinen in den Augen des Sängers gefährdet. 
"den Kindertod aus grauem Brot" - Krasse Entgegensetzung zur kosmischen Erweiterung des Kindes zum Gestirn. Die Formulierung schockiert. Eben noch erhebt der Dichter das Kind zum Sternbild; jetzt spricht er vom Tod des Kindes: wie soll das zusammengehen, so fragt man sich. Im dritten Buch des "Stundenbuchs" beschrieb Rilke das Leben der armen Leute in der Großstadt. Die Bilder wirken krass und rütteln auf. Rilke zeigte Mitgefühl und sprach für die Randgruppen der Gesellschaft. Er hat diese Haltung in seinem Spätwerk beibehalten. Die Gruppe der Artisten gehört ebenso dazu wie die der Tiere. Rilke widmete ihnen jeweils eine Elegie: den Künstlern die fünfte, den Tieren die achte. 
Auch die Kinder in ihrem ungeschützten Sein erfahren die Unterstützung des Dichters. Er sieht in ihnen so etwas wie die reine Möglichkeit menschlichen Seins. 
Das Bewusstsein der Kinder ist noch nicht von der Reflexion gebrochen. Sie leben in der Spontaneität und im Augenblick. Auch die Tatsache, dass ihr Leben vom Tod geprägt wird, kann das kindliche Unschuldbewusstsein nicht zerstören. Sie leben das todgeweihte Leben in Freude. Das "ist unbeschreiblich".3) 
(Ich stütze mich in dieser Deutung auf Romano Guadini S.161 f.)

Anmerkungen


1) Siehe dazu den Kommentar von Manfred Engel in KA II S.646 f. (KA = Rilkes Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Band 2) 
2) "A la recherche du temps perdu", Marcel Prousts berühmter Romanzyklus, wurde von Rilke sehr geschätzt. 
3) Ich stütze mich in dieser Deutung auf Romano Guadini S.161 f.