Erläuterungen zur "Siebten Elegie"

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Dr. Johannes Heiner, März 2004

 

Dieser Text ist ein Auszug aus der Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."

 

(Die Zahlen bezeichnen die einzelnen Strophen. Die Nummern hinter den Sätzen verweisen auf den Anmerkungsteil.)

 

1

"Werbung nicht mehr.." - Mit unserem heutigen Verständnis hat dieser Begriff wenig gemeinsam. Die siebte Elegie verwendet ihn im Sinne des Treibens der Natur im Frühjahr (Balzzeit der Tiere) und deutet an, dass der Mensch aus dieser Nähe zur Natur "entwachsen", in das Stadium der Individuation eingetreten ist ("einzelnes Herz"), in dem er nicht mehr mit seiner Triebnatur identifiziert ist. Allerdings ist damit der Sinn von "Werbung nicht mehr" noch nicht eigentlich erklärt. Die siebte Elegie zeigt ja die Werbung in vielfältiger Weise auf: bei der Geliebten, wie sich in ihr langsam die Antwort auf den Ruf des Geliebten herausbildet; im Ton der Verkündigung des einsetzenden Frühlings; am Ende der Elegie wird sogar der Engel in das Thema einbezogen. 
Gerade der Schluss kann uns helfen, den Sinn des Anfangs zu begreifen. Der Engel ist für das werbende Wort des Dichters nicht zugänglich. Das um Liebe, Anerkennung, Freundschaft werbende Wort gehört nämlich dem Reich der Natur an, das der Dichter zugunsten des Reiches des Unsichtbaren hinter sich gelassen hat. Die Wendung nach innen, von der die sechste Strophe kündet, vollzieht sich als Distanzierung von der menschlichen Triebnatur. 
Es ergibt sich von hier aus gesehen, dass die siebte Elegie feiert, was Rilke in seiner Spiritualität erreicht hat: die Unabhängigkeit von Besitz und Eigentum (Armutsideal), die "Abgeschiedenheit" (siehe den Schluss der sechsten Elegie) unter den Menschen als Distanzierung vom Bedürfnis nach Anerkennung und Zuwendung durch andere Menschen und damit einen Zustand der Losgelöstheit von der eigenen Identität (Namenlosigkeit als Dienst an der Sache). 
Aber auch dieser Sachverhalt wird vom Schluss her verstehbar. Dort heißt es nämlich: "Mein Anruf ist immer voller Hinweg". "Werbung nicht mehr" mit dem Hinweis auf den Individuationsprozess wäre ein solches Zugleich von Faszination und Abwehr. 
"sei deines Schreies Natur - Gemeint ist die "entwachsene Stimme"; sie soll sein, was sie wirklich ist, ihre Wesensnatur verwirklichen. Dazu gehört nicht nur die Liebe (s. weiter unten), sondern auch der Tod, die Kindheit usw. Die von Rilke gemeinte Wesensnatur der Dinge ist nicht zu verwechseln mit der Natur im Frühling. Das Ganze des Kosmos ist geistiger Natur, es besitzt ein unsichtbares Wesen, das von der mystischen Intuition ergründet und vom dichterischen Wort gestaltet wird. 
"das sie ins Heitere wirft" - Subjekt des Satzes ist die Jahreszeit des Frühlings. Sie tritt als Person auf und "wirft" die Lerche in den Himmel. 
"wie er, so würbest du wohl, nicht minder" - wie der männliche Vogel um das Weibchen, "wirbt" der Geliebte um die Freundin. 
"deinem erkühnten Gefühl die erglühte Gefühlin" - Die siebte Elegie formuliert prägnant die traditionelle Rollenteilung zwischen Mann und Frau. Der Mann trägt demnach die Initiative vor, die Frau hält sich zurück und wartet ab, bis der Mann sich erklärt hat. Dann nimmt sie seine Werbung an oder weist sie zurück. 
Dem Spiel der Triebnatur unterlegt Rilke einen zweiten, geistigen Naturbegriff, der auf das Wesen der Dinge zielt. Die siebte Elegie steuert auf die Erkenntnis der Ganzheit des Lebens zu. 

2

"0 und der Frühling begriffe" - wie wenn er eine Person wäre, die erwacht und die Dinge des Lebens mit neuen Augen anschaut. 
"den Ton der Verkündigung" - Die siebte Elegie und mit ihr zusammen die neunte verkünden den Lobpreis des Lebens. "Verkündigung" ist mit Bedacht wegen seiner religiösen Färbung gewählt. Andere Wort dafür ist "Rühmung" und "Preisung". 
"dann den Triller, Fontäne, die zu dem drängenden Strahl schon das Fallen zuvornimmt" - ein alter Gedanke Rilkes, dass das Lebens glücklicher Aufstieg und tödliches Fallen in einem ist. Die zehnte Elegie nimmt dieses Bild wieder auf. 
"im versprechlichen Spiel" - man kann sich versprechen und man kann Versprechungen geben.

3

"die Sterne der Erde" - Rilke bringt in dieser Formulierung das Weltall auf die Erde zurück. Er wendet sich ganz in der Tradition Nietzsches ausdrücklich gegen den christlichen Versuch, die Sterne in ein Jenseits abzuspalten. Gleichwohl leugnet er nicht die Transzendenz in der Immanenz der Lebensprozesse. Er fasst diesen Aspekt mit dem Begriff des Unsichtbaren oder des Unsagbaren. Die Verbindung zum mystischen Erfahrungsraum liegt auf der Hand. 

4

"Aber nicht s i e nur käme" - Rilke knüpft an seine schrechlichen Erlebnisse vom Elend der Armen in Paris an. Er hat das Großstadtelend in dem Buch "Von der Armut und vom Tod" aus dem "Stundenbuch" erstmals dargestellt. Die jetzt einsetzende Erweiterung in der Bewusstwerdung des vereinzelten Menschen in seiner Zugehörigkeit zur Erde und zum Weltall sucht den Tod in das Ganze des Lebens einzubeziehen. 
"Die Versunkenen suchen immer noch Erde" - eines der Themen der "Requien", die Rilke für verstorbene Freundinnen und Freunde geschrieben hat. Der Sänger der Elegie beruhigt die Toten, dass die unbewusste Suche der verstorbenen Seelen sich ja auf "das Dichte der Kindheit" richte. Die Kindheitserinnerung ist jedem Menschen unvergänglicher Besitz. Der sterbende Mensch, der sich dessen bewusst geworden ist, kann die Erde in Ruhe verlassen. 

5

"Hiersein ist herrlich." - Man bemerke das fehlende Ausrufungszeichen. Man bemerke auch, dass es nicht heißt, das Leben sei herrlich; es ist sehr viel genauer vom "Hiersein" die Rede. Eben hatte Rilke von den Toten gesagt, sie wollten zugleich dort und hier auf der Erde sein. "Hiersein" grenzt ab und wird konkret. 
Die Einschränkungen folgen auf den Fuß. Das Gefühl, im eigenen Leben wirklich einmal mit Geist, Seele und Körper anwesend gewesen zu sein, wenn auch nur "für eine Stunde", verleiht dem Menschen im Augenblick des Todes ein erfülltes Leben. Das Erlebnis des Hierseins ist für Rilke nicht abhängig von materiellem Reichtum oder von Bildung. Auch die "schwärenden" Freudenmädchen in der Großstadt können es gehabt haben. Es ist eher abhängig davon, ob der Mensch seine Einsamkeit erträgt und der Prüfung durch die Erfahrung des Nichts standhält. 1) Rilkes Parteinahme für die Armen im Geist von Franziskus aus dem "Stundenbuch" findet hier eine Fortführung. Man sollte diesen Punkt nicht übersehen. Die Tiefe von Rilkes Gedichten ist immer auch Ausdruck seiner Anteilnahme an den "armen" und "einfachen" Menschen seiner Umgebung. 

6

"Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen." - Rilke schließt damit an Gedanken der neuen Innerlichkeitsbewegung von Novalis bis Nietzsche an. Eine berühmte Formulierungen von Novalis lautet: "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten - die Vergangenheit und Zukunft" (Novalis 1797 in den "Fragmenten"). Mit der Wendung nach innen hängen auch die beiden weiteren Begriffe "Verwandlung" und "unsichtbar" zusammen. Die materielle Welt wird in die geistige transformiert. 
"Unser Leben geht hin mit Verwandlung" - Im Wort Ver-wandl-ung schwingt "die Wand" mit. Die "Duineser Elegien" suchen nach einem Leben in der Offenheit, d.h. ohne das Errichten von "Wänden" aller Art. Wer keine Mauern um sich errichtet, kann sich in seinem Innern durch das Leben verwandeln lassen. Siehe dazu ausführlicher Rilkes Ideal des "offenen Lebens" in der achten Elegie. "Wo einmal ein dauerndes Haus war, schlägt sich erdachtes Gebild vor" - Der ganze Absatz trägt die Spuren von Rilkes Kritik am Industriezeitalter. Er kritisiert das Fehlen der Frömmigkeit ("Andacht"), das Abstraktgewordensein der Lebensumstände und die Fetischisierung des Geldes. S.dazu KME S.618 f.
"ins Unsichtbare hin" - Der Begriff des Unsichtbaren ist für das Verständnis von Rilkes Spätwerk ebenso zentral wie der Begriff Verwandlung. Das dichterische Wort verwandelt die sichtbare in eine unsichtbare Welt und gibt dabei die Essenz des "Nächsten", das sind die nahen Dinge, zu schmecken.

7

"Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte" - Rilke und viele andere Künstler der Jahrhundertwende standen dem Materialismus des Industriezeitalters kritisch gegenüber. Die Romantiker hatten diese Rebellion gegen die Moderne begonnen. Nietzsches Denken und Dichten gab entscheidende weitere Anstöße. Die Theosophie, die Reformpädagogik, die Philosophie des Lebens und andere Bestrebungen haben sehr genau nach Momenten der "heilen Welt" im Zeitalter der Moderne gefahndet. Man wollte das Leben im Industriezeitalter lebenswert machen. Rilke fand Momente der "heilen Welt" ansatzweise im Bewusstsein der Liebenden, dem der Kinder und dem der Tiere verwirklicht. Man kann Rilkes Bestrebungen als Teil der Suchbewegung einer modernen Mystik ohne Gott verstehen, die u.a. auf Nietzsche und Novalis zurückgeht. 2) Die sechste Strophe bringt genau diesen Sachverhalt zum Ausdruck. Die Momente einer "heilen Welt" sind aus der Wirklichkeit ins "Unsichtbare" entschwunden. Der moderne Mensch "gewahrt" sie aber nicht mehr. Es ist die Aufgabe des Künstlers, Winke der Heilung für die "enterbten" Menschen im Industriezeitalter zu geben. "in deinem Anschaun steht es gerettet zuletzt" - An dieser Stelle tritt die wahre Bedeutung des Engels der Elegien hervor. Er bildet im Innern des Menschen die höchste Instanz. Der Dichter der Elegien hat in seiner Turmeseinsamkeit Zuflucht zum Engel genommen. Er kann ihm die Einsichten anvertrauen, zu denen Rilke im Laufe seines Lebens gefunden hat. Eine solche Einsicht ist z.B. "Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen." Der Engel der Elegien bewahrt das menschlich Bewährte in seinem Herzen für die bessere Zukunft und für einsichtige Menschen auf.

Anmerkungen 


1) Siehe dazu, Jean Gebser, Rilke in Spanien. Gebser arbeitet Rilkes Ausharren im Nichts in der Zeit seiner Lebenskrise 1910-1919 deutlich heraus. In meinem Aufsatz "Rilke als Mystiker" in der Festschrift Willigis Jäger Freiburg : Herder 2005 knüpfe ich an Gebser an und untersuche die Öffnung der Nacht-Metapher für das kosmische Bewusstsein. 
2) Siehe dazu Uwe Spörl, Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn 1997.