Rilke und die Duineser Elegien - 4. Rilke als Mystiker - eine Zusammenfassung

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Rilke ist ein Dichter, der sich menschlich und spirituell sehr in die Tiefe entwickelt hat. Man kann dies an einem Detail sehen: "Der Baum" ist in den Jugendgedichten ein Wesen, mit dem das lyrische Ich eins wird. In den Elegien ist er zu einem Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens geworden ("O Bäume Lebens, o wann winterlich?"). Dasselbe Wort, aber grundverschiedene Bedeutungen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt man mit den Wörter "Engel" und "Nacht". Sie sind von Anfang an da, tragen aber eine andere Bedeutung. Ähnlich verhält es sich mit Rilkes mystischen Bestrebungen. Sie sind von Anfang an da, ihr Wesen verändert sich aber dramatisch. Für die Gedichte nach dem Malte-Roman habe ich festgestellt, dass Rilke sich mehr und mehr auf die Erfahrung des Nichts einlässt und sich ihr aussetzt. Rilkes Bild für das Nichts ist die "Nacht". Gelegentllich benutzt er auch den Begriff der "Leere". 2) Die von Rilke so bezeichneten "Gedichte an die Nacht" wurden in den Jahren 1913 und 1914 geschrieben. 1916 hat er zweiundzwanzig "Gedichte an die Nacht" in einem Schreibheft für Rudolf Kassner zusammengetellt. 3) Er war sich damals noch unsicher, ob er die Elegien würde beenden können. Eine Sammlung von "Gedichten an die Nacht" erschien ihm eine brauchbare Alternative zu den Elegien zu sein. In den Gedichten an die Nacht spielt sich die entscheidende Wendung zur Nacht als positiv erfahrener Weltraum ab. In den Elegien tritt der Engel mehr in den Vordergrund. Die Weltraum-Mystik der Nacht bleibt aber erhalten. "Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet." 
Ich füge einen Überblick über die "Gedichte an die Nacht" an, damit man sie in den Ausgaben mit Rilkes Gedichten finden kann: 

Die Anfänge der Gedichte an die Nacht in der Reihenfolge ihrer Entstehung:

  1. "Aus dieser Wolke" ("Die spanische Trilogie I"), Ronda zwischen dem 6. und 14. Januar 1913
  2. "Warum muss einer gehen" ("Die spanische Trilogie II")
  3. "Daß mir doch, wenn ich wieder" ("Die spanische Trilogie III")
  4. "Starker, stiller, an den Rand gestellter Leuchter", Ronda, 14.Januar 1913
  5. "So angestrengt wider die starke Nacht", Paris, Ende Februar 1913
  6. "Überfließende Himmel", Paris, April 1913
  7. "Dass ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht" (Ursprüngliche Fassung der zehnten Elegie, Fragmentarisch), Duino 1912, Paris, Herbst 1913 
  8. "Ist Schmerz", Paris, Herbst 1913
  9. "Der du mich mit diesen überhöhst: Nächten", Paris, Herbst 1913
  10. "Ob ich damals war", Paris, Dezember 1913
  11. "Gedanken der Nacht", Paris, Dezember 1913
  12. "O wie haben wir, mit welchem Wimmern" ("Die Geschwister I"), Paris, Ende 1913
  13. "Lass uns in der dunkeln Süßigkeit" ("Die Geschwister II"), Paris, Ende 1913
  14. "Siehe, Engel fühlen durch den Raum", Paris, Ende 1913
  15. "Atmete ich nicht aus Mitternächten", Paris, Ende 1913
  16. "So nun wird er doch", Paris, Ende 1913
  17. "Hinweg, die ich bat", Paris Ende 1913
  18. "Einmal nahm ich zwischen meine Hände", Paris, Ende 1913
  19. "O von Gesicht zu Gesicht", Paris, Jahreswende 1913/14
  20. "Wenn ich so an deinem Antlitz zehre", Paris, Jahreswende 1913/14
  21. "Oft anstaunt ich dich" ("Die große Nacht"), Paris, Januar 1914
  22. "Hinhalten will ich mich", Paris, Anfang Januar 1914
  23. "Ach aus eines Engels Fühlung", Paris, Februar 1914
  24. "Hebend die Blicke", Paris, Februar 1914

 

Die Positionen Nr. 7 (Ursprüngliche Fassung der zehnten Elegie) und die Nr. 13 (die zweite Strophe von "Geschwister") habe ich zu den zweiundzwanzig von Rilke bestimmten Gedichten hinzugefügt. Es sind in diesem Zeitraum noch mindestens sechs weitere Gedichte zum Thema Nacht entstanden. Man sollte sich nicht auf die von Rilke ausgewählten Texte allein beschränken.

 

>> 5. Rilke und der Engel

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