"Lieder, die das Leben singt" - Else Kornis und Rainer Maria Rilke

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Else Kornis hat ihr Leben lang Gedichte gelesen. Sie hat sechzig Jahren lang, von 1922 bis 1983, selbst gedichtet und mehrere Gedichtbände veröffentlicht.1 Gelebt hat sie von 1889 bis 1983. Es ist hier nicht die Stelle, sie als Autorin vorzustellen.2 Auch 25 Jahre nach ihrem Todestag am 18.12.1983 in Ottmaring, sprechen ihre Gedichte mit starker Stimme zu uns. Sie eröffnen einen weiten Horizont auf die deutschsprachige Lyrik jenseits des Eisernen Vorhangs, die mit dem kulturtragenden deutschsprachigen Judentum in Prag, Budapest und Bukarest und den emporstrebenden Schichten des nationalen Bürgertums, den Tschechen, Ungarn und Rumänen, auf das Engste verknüpft war. 

Es geht in dieser kleinen Studie um etwas Anderes. Es geht um die Beziehung der Dichterin zu ihrem "Schreibmeister" Rilke.3 Die junge Else hat für den zwölf Jahre älteren Dichter in Prag geschwärmt. In ihrem Erinnerungsbuch über die Kindheit und Jugend in Prag erzählt sie, dass er ein Zimmer in der Wassergasse hatte und immer, wenn Else ihre Freundin besuchte, sah sie die Erscheinung des Dichters am Fenster stehen. Hier ihre eigenen Worte:

"Ich habe Rilke nicht persönlich gekannt, aber viele seiner Gedichte, ich habe ihn oft gesehen den Einsamen, den unendlich Menschenscheuen.
Meine Freundin Liese P. und ich arbeiten um diese Zeit in der Wassergasse, in Frau Malwines Fantls Hutsalon. Gegenüber bewohnt Rilke ein bescheidenes Hofzimmer. Manchmal steht er traurig am Fenster, er ist ganz ohne Pose traurig.


Wichtiger noch ist der dann folgende Hinweis: 
"Ich glaube, nur Liese und ich kennen sein "Stundenbuch"."4 

Else Kornis kannte "Das Stundenbuch" von Rilke (1904) und sie studierte es eifrig. Die Kenntnis dieser Gedichte wurde in den entsprechenden Kreisen mit großer Schnelligkeit verbreitet. Man steckte sich wechselseitig mit der eigenen Begeisterung an und entzündete sich am Enthusiasmus der Freunde und Freundinnen. Es war ein Zeit des Aufbruchs. Vorurteile, die gegen die "fremde" Bevölkerungsschicht der Tschechen von den "Deutschen" in Prag viele Jahrhunderte lang gehütet worden waren, zerbröselten. Auch die Konventionen wurden durchlöchert und ließen mehr Raum für Begegnung und Nähe zwischen den sich verbrüdernden Menschen aus den bislang getrennten Lagern der Gesellschaft.

Offensichtlich blieb Else Kornis nicht bei der Lektüre des "Stundenbuchs" stehen. Sie wird die "Neuen Gedichte" (1908), die "Sonette an Orpheus" und die "Duineser Elegien" (beide erschienen 1923) gekannt haben. Das kann man aus den Spuren erschließen, die diese Gedichtsammlungen in ihren Texten hinterlassen haben. Nachdem sie nach Temesvar geheiratet hatte, lernte sie den Dichter Franz Xaver Kappus kennen. Kappus ist der Adressat von Rilkes "Briefen an einen jungen Dichter". Und Kappus war es auch, der den Kontakt zur Zeitung vermittelt hat. Hören wir, wie Else Kornis erzählt: 

"Auf der ersten Seite der Sonntagsnummer der "Temesvarer Zeitung" erschien meine erste Veröffentlichung. Nichts übertraf dieses Glück! Es war die Übersetzung des ungarischen Dichters Ady Endre "Vetter Tod". Später brachte das Blatt meine Gedichte, noch später erschienen Gedichtbände, aber das war in Bukarest."5

An erste Stelle meiner Belege für die Beziehung zu Rilke steht das Gedicht mit der Überschrift "Rilke".6 Der Gedichtband "Feierabend" ist 1967 im Bukarester Literaturverlag erschienen. Das Gedicht ist auf 1930 datiert. Es handelt sich um ein langes Gedicht von drei Seiten. 

Das Thema Rilke wird zunächst vom Thema des Gedichtbandes her angegangen. Der Dichter wird als ein Mensch gesehen, der aus seiner Lebenserfahrung "Lieder" entstehen lässt, die er dann zu "Kränzen", gemeint sind Gedichtsammlungen, zusammenstellt ("bindet"). Das Gefühl von "Feierabend" war früher auf dem Lande eng mit dem Binden von Kränzen zum Advent und zu anderen Festen, verbunden.

Dieses Bild der Kränze bestimmt den ersten Teil des Gedichts in doppelter Weise. Zunächst negativ: Die Dichterin Else Kornis fühlt sich nicht in der Lage, solche Kränze zu binden, wie es die Gedichtsammlungen von Rilke sind. Sie fühlt sich noch nicht erfahren genug, "tiefe Stimmen" und "echte Tränen" einzufangen. Sie muss sich einstweilen damit begnügen, dem Dichter Rilke "nachzugehen" und seine Texte "nachzumalen". Doch sie hat die begründete Hoffnung und setzt sie als Gegenwart ein, dass sie eines Tages ihre eigene Stimme, ihre "Melodie", finden werde.

"Im Klange deiner Glocken finde
ich meine Melodie,
und aus dem Nachklang deiner Stimme winde 
ich leise Lieder,
binde sie zu Kränzen,
und laß sie sanft in meiner Stube glänzen.
"

Es folgt ein zweiter Teil, in dem Else Kornis zunächst ihre Verehrung für Rilke ausdrückt. Dann würdigt sie die Leistungen des Dichters Rilke: 
"Du zauberst nie geschaute/ Gestalten ...Du sahst den feinsten Schatten einer Rose ... Beseelt hast du das Seelenlose ... Und allen nahst du, die belanden sind ...von innen hast du alles angesehen ... Du stellst die Frau/ in ihr erhöhtes Leben ...". 

Else Kornis hebt drei Punkte hervor:

1. Rilke hat sich nicht gescheut, für die Menschen am Rande der Gesellschaft einzutreten. Er hat das Schicksal der Mädchen, Kinder und Tiere beklagt und ihr Schicksal in unvergleichlichen Worten heraufbeschworen. 

2. Der zweite Punkt ist die Innenschau. Der Dichter Rilke blickt mit anderen Augen auf die Welt als der normale Mensch, der dem Äußeren verhaftet ist. Rilkes Herz schlagt im Einklang mit dem Geheimnis der Dinge. Er fühlt mit ihnen und erspürt ihr wahres Wesen. Rilke schaut mit den Augen der Seele.

3. Der Dichter hat den Mädchen, Frauen und Liebenden einen besonderen Rang in seinen Dichtungen eingeräumt. Er hat mit ihnen mitgefühlt und ihnen eine Stimme gegeben. Else Kornis drückt diesen für die Stellung der Frau in der modernen, patriarchalisch geprägten Gesellschaft so wichtigen Sachverhalt mit den Worten aus: "Du stellst die Frau/ in ihr erhöhtes Leben ...".

Der Dichter, so Else Kornis in ihrem Text, hat die Welt ein Stück weit "besser" gemacht. Er hat sie verzaubert. "Verzaubern" heißt, dem Leben die Tiefe des Geheimnisses zurückzugeben. Und er hat die Leser seiner Gedichte verwandelt. Der Schlussteil des Gedichts bringt diese Auffassung ein weiteres Mal zu Wort:

"Von Schlacken rein,
geheimnistrunken,
erglänzt ein Zauberbild.
In höheres Gefild
hast du das Erdental verlegt.
Wir wandeln uns, wenn wir dich lesen,
und fühlen, wie dein Wesen
das unsre prägt
".

Das Gedicht "Rilke" von 1930 bezeugt die intensive Wirkung der Poesie von Rilke auf die jüngere Generation, für die hier Else Kornis steht. Viele Frauen haben Rilke in ähnlicher Weise wie Else Kornis verehrt. Aber nur wenige waren in der Lage, dafür das treffende Wort zu finden. Die Länge ihrer Auslassung (der Text geht über drei Seiten) zeigt, wie wichtig ihr die Beziehung war zum "traurigen Dichter ganz ohne Pose", wie sie ihn oben beschrieben hat. Sie dankt es ihm, indem sie sehr genau schildert, welche Art von Beziehung sie bis 1930 zu Rilkes Lyrik aufgebaut hat.

Die späten Gedichte von Else Kornis nach 1975, dem Datum ihrer Reise in die USA, sind kürzer und einfacher gestaltet, behalten aber das poetische Gepräge im Anschluss an Rilke bei (Stichwörter: Reime, durchgearbeiteter Rhythmus, bildhafte und musikalische Sprache). Rilke ist als Vorbild nach wie vor präsent. Nur ist die Wirkung mehr hintergründig. Der Einfluss von Rilke ist sozusagen in die Tiefenschicht der Texte gerutscht. Als Beispiel diene das Gedicht "Lebendiges Sein".

Lebendiges Sein

Die Tiefe des Wortes
bringt lebendiges Sein,
öffnet Knospen zu Blüten,
legt auf Kissen sich nieder
auf Felsengestein.
Spöttische Worte sind Krallen, 
graben als Wurzeln sich ein,
machen zu mächtigen Stämmen
werden lebendiges Sein.


(unveröffentlicht, 1983)

Dieses Gedicht hört sich wie eine Antwort auf die bange Frage an, die von der Dichterin 1930 gestellt worden war, ob sie wohl ihre eigene Stimme finden würde. Nun kommt die Antwort der Greisin. Else Kornis war 94 Jahre alt, als sie diesen Text niederschrieb. Die Schriftzüge sind aber trotz des Alters noch gut lesbar. In ihre Antwort hebt sie hervor, dass es ihr wie Rilke um die "Tiefe des Wortes" geht. Nur das tiefe Wort kann berühren. Nur das tiefe Wort kann erwecken. Die Dichterin findet dafür das Bild vom Öffnen der Knospe zur Blüte. 
Interessant ist der zweite Teil des Gedichts. Die Dichterin legt das "tiefe Wort" sowohl auf "Kissen", als auf "Felsengestein". Es bewährt sich im Leben und das Leben ist nicht nur schön ("Kissen"), sondern auch hart ("Felsengestein"). Die Dichterin spricht jetzt mit eigener Stimme, die durch das Leben gereift ist. Sie weiß auch, dass "spöttische Worte" tiefer als schöne Worte berühren können. Mit dem Dichter Rainer Maria Rilke verbindet sie nach wie vor die Auffassung, dass Dichtung, Poesie, dem tiefen Wort nahe am Schweigen verpflichtet ist. 

Mit den folgenden Gedichten möchte ich mich von Else Kornis und Rainer Maria Rilke verabschieden.


Stille

Horch auf die Stille, die klingt,
dich umschlingt!
Sie kost an trüben Tagen
mich altes, ermüdetes Kind.
Sie kommt zu mir in die Stube
und hält sich da gerne auf,
begleitend den Lauf des Tages,
der in das Dunkel versinkt.
Ich singe Lieder des Lebens
und von der Stille, die klingt.


(unveröffentlicht, 1983) 


Rilke

Ich bin dir nachgegangen,
als ich noch keinen Schritt von selber fand,
als ich am Straßenrand
noch keine tiefe Stimmen eingefangen
und keinen Jubelschrei und keine echte Träne,
als ich aus Knospen kleiner Töne
noch keine Kränze wand.
Du malst mir heute
erträumte Wunder an die fahle,
verschwiegene Wand.
Ich sehe sie und deute
die fremden Zeichen, male
verzaubert, überwach,
die Zeichen nach.
Im Klange deiner Glocken finde
ich meine Melodie,
und aus dem Nachklang deiner Stimme winde 
ich leise Lieder,
binde sie zu Kränzen,
und laß sie sanft in meiner Stube glänzen.
In hohen, dämmrigen Gewölben sink ich nieder,
bedrückt von einer fernen Harmonie.
Ich sink mit dir, vor dir ins Knie.
Du zauberst nie geschaute
Gestalten aus dem Dämmerlicht hervor,
und nie erlauschte, kaum erfühlte Laute
verweben sich zum unsichtbaren Chor. 
Du sahst den feinsten Schatten einer Rose,
die nie bei dir der Sprache Duft verlor.
Beseelt hast du das Seelenlose,
verklärt des wesenloseste Geschehn.
Und allen nahst du, die beladen sind
mit Staub und Erdengrau,
von innen hast du alles angesehn:
den Tisch, die Trauben und die Reben,
den Baum, das Kind ...
Du stellst die Frau
in ihr erhöhtes Leben.
Und jedes Volk und jedes Land
erkennst und liebst du in den Früchten,
erschaust noch nicht Gereiftes wie in Traumgesichten.
Der stets Verkannte wird von dir erkannt
an seinem Gruß, nur ihm und keinem andern eigen,
an seinem Schweigen ...
Und schöpfst du auch aus dunklen Seelentiefen,
belebst du selbst den Tod,
so strahlt die Welt auf dein Gebot,
und Stimmen klingen, die schon lange schliefen,
und Farben Schimmern auf, und sie vertiefen
den Glanz, von keinem scharfen Licht bedroht.
Wo sammelst du verstreute Funken,
wo fängst du blaue Flämmchen ein?
Von Schlacken rein,
geheimnistrunken,
erglänzt ein Zauberbild.
In höheres Gefild
hast du das Erdental verlegt.
Wir wandeln uns, wenn wir dich lesen,
und fühlen, wie dein Wesen
das unsre prägt.


Else Kornis, 1930 

© Dr. Johannes Heiner, November 2008



1) Else Kornis, Jahre kommen, Jahre gehen. Literaturverlag Bukarest 1964; Feierabend. Gedichte. Literaturverlag Bukarest 1967; Tagebuchblätter. Friedberg-Ottmaring 1981 
2) Siehe dazu meinen Beitrag "Else Kornis zum 25. Todestag", gehalten am 9.11.2008 im Begegnungszentrum Ottmaring.
3) Den Begriff "Schreibmeister" habe ich in meinem Festvortrag am 9.11.2008 in Ottmaring geprägt.
4) Zitiert aus Else Kornis, Kindheit und Jugend im alten Prag. Erinnerungen. Literaturverlag Bukarest 1972 S.90 f.
5) Else Kornis, Meine Jahre in Bukarest. Unveröffentlichtes Manuskript. 
6) Else Kornis, Feierabend. Gedichte. Literaturverlag Bukarest 1967 S.62-64