Herta Müller: Atemschaukel - 2. Lagerleben

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Das Arbeitslager, um das es hier geht, lag zu Füßen der Karpaten. Herta Müller hat es später aufgesucht, um sich ein Bild vor Ort davon zu machen. Doch es war nicht mehr viel davon übrig geblieben. Es ging den Gefangenen dort schlecht. Sie mussten bis zur Erschöpfung arbeiten, bekamen aber keine entsprechende Nahrung. Die mangelnde Hygiene verursachte Ungeziefer. Das Ungeziefer übertrug Krankheiten. Die ausgemergelten  Menschen konnten vor lauter Flohbissen nicht schlafen. Sie mussten antreten und lange Zeit still stehen. Sie wurden schikaniert und gedemütigt.

Herta Müller hat es geschafft, dieses unendliche Leid mitteilbar zu machen. Ihr Roman Atemschaukel baut Spannung auf, obwohl die „äußere Handlung“ spärlich ist. Diese Spannung konzentriert sich nicht auf den Fortgang der Handlung, sondern auf die Überlebensstrategien der Lagerinsassen.

Was sie über das Arbeitslager schreibt, stellt nicht etwa eine Fantasiewelt dar. Jeder Buchstabe ihrer Texte ist mit der Wirklichkeit des Leids voll gesogen. Die Sprache kracht aus allen Fugen und platzt aus allen Nähten, so gewaltig ist das geschilderte Leid. Doch sind es keine naturalistischen Schilderungen, die den Leser und die Leserin gefangen nehmen. Es ist die Kunst der Dichterin, wie sie mit der Sprache umgeht. Dieser Kunst gelingt es, die brutalste Wirklichkeit – eines Unfalls, eines Vergehens – erträglich zu machen. Vielleicht ist es so, dass die Dichterin gerne Zitronen auspresst und es sich dabei zur Aufgabe macht, die Zitrone Wirklichkeit bis auf den letzten Tropen Saft auszupressen. Bis auf den letzten Tropfen hat sie die innere und äußeren Realität der Gefangenen ausgepresst und dabei Worte erfunden, die es gar nicht gibt, so dass die erlebte schreckliche Realität zu einer poetischen des Erzählens wird, die der Leser und die Leserin als Kunst genießen kann.

Dabei hat sie selbst gar nicht in einem Arbeitslager gelebt. Es war ihre Mutter, die gleich nach dem Krieg,  wie damals viele Deutschstämmige, von den sowjetischen Truppen ergriffen und ins Arbeitslager gesteckt wurde, um die Schande zu büßen, eine Deutsche zu sein. Sie muss Anfang des Jahres 1950 nach Temesvar zurück gekommen sein. Die Tochter Herta wurde dann drei Jahre später geboren. Die Mutter und der Vater gehörten der deutschen Kolonie an. Der Vater hatte als Soldat bei der Waffen-SS gedient und führ nach dem Krieg LKWs. Herta schaffte das Abitur auf der Deutschen Schule, studierte Germanistik und Rumanistik und fand dann Verwendung als Fremdsprachenkorrespondentin in einer Fabrik. Dort wollte sich ihrer der Geheimdienst bemächtigen. Doch die  resolute Frau weigerte sich, wurde entlassen und übte gelegentlich den Beruf einer Lehrerin aus.  Im Jahr 1987 erhielt sie endlich die Papiere, die es ihr erlaubten, mit ihrem Mann Richard Wagner nach Deutschland auszureisen.

[Vorlesen das Kapitel Vom Lagerglück, S. 245ff.]

Man meint einen Lexikon-Artikel über das Lagerleben zu lesen. Es gibt das Mundglück und das Kopfglück. Später kommt noch das Eintropfenzuvielglück hinzu.

Doch dieser Anschein lässt sich nicht für die Dauer des Artikels aufrecht erhalten.

Zu ungewohnt sind die beschriebenen Vorgänge, als dass man unbefangen bleiben könnte.

Man fühlt sich betroffen, in der Tiefe des eigenen Gefühls von Würde, getroffen und tut sich schwer, zu realisieren, was das für eine Betroffenheit ist. Sie ist so tief unten, dass es Anstrengung braucht, ihrer wirklich gewahr zu werden.

Die Betroffenheit stellt sich ein, weil hinter dem Thema Lagerglück das ganze Unglück des Lagerlebens heraufsteigt. Der Hunger ist die absolute Realität, nicht nur im Bauch, sondern auch im Kopf der Lagerinsassen. „Glück“ ist, wenn sie diese umfassende Realität vergessen können. Wenn sie auf dem Abfallplatz eine Kartoffelschale ergattern oder in der Steppe auf ein Kraut stoßen, das halbwegs essbar ist. Ob es auch verdaubar ist, wird sich erst später herausstellen.

Nach außen handelt der Lexikonartikel vom Glück. Gezeigt aber wird das Unglück. Die scharfsichtigen Unterscheidungen in Mundglück und Kopfglück  verschwinden. Sie sind keine Klassifikationen, sondern hilflose Versuche eines machtlosen Darüber-Nachdenkens. Die Not wird in mehrere Etagen eingeteilt, damit sie besser verdaut werden kann.

>> 3. Betrogene Heimkehrer

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