Herta Müller: Atemschaukel - 4. Sprachliche Verwandlungskraft

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Ich sagte am Anfang, die Themen Deportation, Arbeitslager und Heimkehr sind brisant und dass es ein Verdienst ist, sie zu behandeln. Doch die gesellschaftliche Relevanz der Themen allein reicht noch nicht aus, um ein Stück Prosa zur Weltliteratur zu machen. Es ist meine Frage: Was macht die Autorin mit und in der Sprache, dass aus einer beliebigen Prosa ein erschütterndes Dokument des Leidens und der Selbstbehauptung gegen Tod und Hunger wird?

Jeder Mensch, der darüber nachdenkt, was es von einem Arbeitslager zu erzählen gäbe, wird sehr bald mit dem Erzählen aufhören. Mit unseren Augen gesehen, die wir im Wohlstand leben dürfen, ist diese Wirklichkeit des Arbeitslagers einfach nur triste und sie macht depressiv. Worüber soll man schon berichten, ohne dass die Langeweile ausströmt, die von allem ausgeht und auf den Leser, die Leserin übergreift? Doch da, wo wir Heutige wenig sehen, sieht die Autorin eine ganze abstruse Welt aufsteigen. Sie lebt verborgen im Tagesablauf, in der Art der Kleidung, in den Gesichtern. Die Autorin hat in vielen Gesprächen eine eigene Wahrnehmung dafür entwickelt. Sie weiß, auf welche Details es ankommt. Sie formt das Material der Wahrnehmungen zu einer eigenen Welt in der Sprache. Diese erzählte Welt lebt von Wörtern wie Hautundknochenzeit für die Zeit im Lager, Hungerengel für die beständige Begleitung des Hungergefühls, Esswörtern, um auszudrücken, dass der hungrige Mensch, der nichts zu essen hat, Wörter isst, Atemschaukel für die Anspannung in der körperlichen Arbeit, die dem Bewusstsein des Menschen keinen Raum lässt, an Anderes zu denken.

Diese Schlüsselwörter tauchen auf jeder Seite wieder auf. Sie bilden ein unsichtbares Netz von Bedeutungen, das immer intensiver wird. Eine Handlung wie im Roman üblich gibt es nicht. Es gibt nur die Sprache in unvergleichlicher Intensität. Was es gibt, sind Episoden, kurze Handlungen und genaue Beschreibungen. Sie werden wie ein Puzzle zu dem zusammengesetzt, was die Autorin einen „Roman“ nennt. Es ist in der Tat ein Roman im ursprünglichen Sinn von unglaublichem Geschehen.

Damit komme ich zum Schluss meiner Betrachtung. Hermann Hesse nannte seine Essays gerne „Betrachtungen“, weil sie etwas mit ganzheitlichem Sehen zu tun haben. Auch Gefühle dürfen „betrachtet“ werden. In meinem Hesse-Buch habe ich viele „Betrachtungen“ zusammen gefügt. Das folgende Zitat aus der Atemschaukel bringt den Kontext zu dem am Anfang dieser Betrachtung zitierten Satz:

„Was kann man sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat. Wenn man an nichts Anderes mehr denken kann. Der Gaumen ist größer als der Kopf, eine Kuppel, hoch und hellhörig bis hinauf in den Schädel. Wenn man den Hunger nicht mehr aushält, zieht es im Gaumen, als wäre einem eine frische Hasenhaut zum Trockenen hinters Gesicht gespannt. Die Wangen verdorren und bedecken sich mit blassem Flaum.“  (Atemschaukel, S. 24 f.)

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