Herta Müller: Atemschaukel - 1. Verhaftung und Deportation

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Als die Sowjets das bis 1944 mit Hitler-Deutschland verbündete Rumänien besetzten, wollten sie Gegenleistungen sehen. Die deutschen Heere hatten Russland verwüstet. Also sollte die Deutschen in Rumänien, die nicht heim ins Reich geflohen waren oder fliehen konnten, das russische Land wieder aufbauen. Die Sowjets ergriffen alle deutschstämmigen Männer zwischen 17 und 45 Jahren, dazu viele junge Frauen, und steckten sie in Arbeitslager, wo sie hart arbeiten und viel hungern mussten. Die Deportation der Rumäniendeutschen dauerte fünf Jahre. Die Heimkehr der Deportierten setzte im Frühjahr 1950 ein. Wie sich diese Heimkehr gestaltete, zeigt Herta Müller im Schlussteil ihres im Jahr 2009 publizierten „Romans“ Atemschaukel. Der Roman lag schon vor, als das Nobelkomitee für Literatur sich für Herta Müller als Preisträgerin entschied.

 

„Als Oskar Pastior 2006 so plötzlich starb, hatte ich vier Hefte voller handschriftlichen Notizen, dazu Textentwürfe für einige Kapitel. Nach seinem Tod war ich wie erstarrt. Die persönliche Nähe aus den Notizen machte den Verlust noch größer. Erst nach einem Jahr konnte ich mich durchringen, das Wir zu verabschieden und allein einen Roman zu schreiben. Doch ohne Oskar Pastiors Details aus dem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt.“

Herta Müller konnte danke eines Stipendiums zwei Jahre lang ungestört arbeiten. Das Ergebnis ist von großer Eindringlichkeit und strahlt poetische Kraft aus.

Ich erwähne diese Zusammenhänge deshalb so ausführlich, weil wir in Westdeutschland wenig über die Deportationen und Arbeitslager der Sowjets wissen, in denen Menschen geschunden worden sind, nur weil sie „Deutsche“ waren. Die Kollektivvergehen der Nazis an den „Juden“ und „Kommunisten“ hatte u.a. die Folge des Kollektivvergehens an den Deutschrumänen durch die Sowjets. Nach dem Sieg der Alliierten über Hitler war es ein Vergehen, ein Deutscher zu sein. Man musste dafür büßen, auch wenn man eine Landfrau wie Herta Müllers Mutter war, oder ein junger Bursche von 17 Jahren, wie der „Held“ Leo in der Atemschaukel.

Ich finde, es ist ein Verdienst und zeugt von langfristiger Perspektive, dass die Themen Deportation und Arbeitslager in einer dermaßen vergnügungsüchtigen Zeit wie der Unsrigen behandelt werden. Die erzählende Prosa eignet sich vorzüglich für die Bearbeitung dieser Themen. Sie verknüpft das Einzelschicksal Leos mit dem einer ganzen Generation von Menschen aus dem Banat, die um ihr Leben betrogen worden sind, nur weil sie als „Deutsche“ galten.

Ich stelle Ihnen einen kurzen Abschnitt zum Thema „Verschleppung durch die Russen“ im Januar 1945 vor.

[Vorlesen S. 18 f.]

„Die Männer lernten im Viehwaggon, ins Blaue zu trinken. Die Frauen lernten, ins Blaue zu singen.“ „Fünf Jahre lang haben die Frauen es gesungen und es so heimwehkrank gemacht wie wir alle waren.“

Auf S. 78 begegnen wir dem „Viehwaggonblues“ wieder. Leo hatte ein schneeweißes Taschentuch aus feinstem Batist“ von einer alten russischen Frau geschenkt erhalten. Die Schönheit dieses Tuches tat ihm weg. Er fing an zu singen: Im Walde blüht der Seidelbast …

Auf  S. 236 begegnen wir ihm ein drittes Mal. Die Lagerinsassen feierten die letzte Silvesternacht mit einer Torte aus kandierten Rüben. Die Lagerinsassen sangen den Viehwaggonblues. „Im Walde blüht der Seidelbast…“ Es heißt dann weiter: „Die Planton-Kati saß mit ihrem Stück Torte auf der Fayencekachel am Tischchen unter der Dienstlampe. Sie schaute uns teilnahmslos zu. Doch als das Lied zu Ende , wackelte sie auf ihrem Stuhl und machte UUH, UUH. Dieses tiefe UUH machte sie, den dumpfen Ton der Deportationslokomotive beim letzten Halt in der Schneenacht vor vier Jahren. Ich erstarrte, einige weinten. Auch die Trudi Pelikan fand keinen Halt mehr. Und die Planton-Kati schaute sich das Weinen an und aß ihre Torte. Man sah, dass es ihr schmeckte.“

Der „Viehwaggonblues“, das ist ein Gedicht von Hermann Hesse mit dem Titel „Wanderschaft“. Es wurde im August 1908 geschrieben und lautet:

 

Im Walde blüht der Seidelbast,

Im Graben liegt noch Schnee;

Und das du mir geschrieben hast,

Das Brieflein tut mir weh.

 

Jetzt schneid ich einen Stab im Holz,

Ich weiß ein ander Land.

Da sind die Jungfern nicht so stolz

Der Liebe abgewandt.

 

Im Wald blüht der Seidelbast,

Kein Brieflein tut mir weh,

Und das du mir geschrieben hast,

Schwimmt draußen auf dem See.

Schwimmt draußen auf dem Bodensee,

Ja, draußen auf dem See.

 

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