Narziss und Goldmund - 3.1. Die mütterliche Herkunft

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Die Geschichte von Goldmund als Künstler beginnt mit dem Bewusstwerden seiner Herkunft von der Mutter. Die Mutter ist südländischer Abkunft und hat den Vater verlassen, als Goldmund noch ein Bub war. Es rinne Zigeunerblut in ihren Adern, berichtet der Erzähler. Sie habe es nicht über sich gebracht, nach der Verheiratung lange sesshaft zu bleiben. Goldmund hatte die Erinnerung an seine Mutter verdrängt. Nun bricht sie mit Macht aus dem Unbewussten hervor und das Gesicht der Mutter erscheint ihm. Es wird Goldmund auf seinem Weg begleiten. In kritischen Situationen, in denen er Hilfe braucht, schaut er das Bild der Mutter in seinem Innern. Doch das Bild der Mutter bleibt sich nicht gleich. Der Erzähler vertieft es immer mehr, bis es schließlich zum Urbild der Eva-Mutter wird. Die Eva-Mutter umfasst das Leben und den Tod, das Leiden und die Ekstase. Sie wird zum Sinnbild eines ganzheitlich erfahrenen Lebens.3

Ob die Mutter eine künstlerische Begabung besaß, wird nicht gesagt. Der Erzähler berichtet nur, dass sie von leidenschaftlichem Temperament war. Goldmund ererbt diese Anlage von seiner Mutter. Sie befähigt ihn, eine starke Intuition zu haben. Intuition und Inspiration sind ja miteinander verwandt. Die Intuition bezieht sich auf die Auswahl. Die Inspiration ist die Quelle des inneren Schauens. Sie bringt die Bilder, Ideen, Vorstellungen, Visionen hervor, die später gestaltet werden. Der Erzähler spricht von "Seelenbildern". In diesen Bildern nimmt eine bestimmt Bedeutung oder ein bestimmter Sinn eine dem Traum verwandte Gestalt an.4 Die von der Mutter ererbten weiblichen Anlagen befähigen ihn, sich hinzugeben und das Leben zu genießen. Sie verleihen seinem Wesen Spontaneität, Kreativität und Lebensfreude.

Die Verbindung zur Mutter ist Goldmund allerdings nicht in den Schoß gelegt worden. Er musste sie sich erkämpfen. Genauer gesagt, musste er sie erleiden. Goldmund wurde krank vor Scham über sein erstes Liebensabenteuer jenseits der Klostermauern. Erst durch diese Krise gelangte er zu einem neuen Bild seines Ichs. Er ist ja beim Vater aufgewachsen und hat von ihm ein falsches Bild der Mutter empfangen. Der Vater wollte, dass ein frommen Mönch aus ihm würde. Diese Konstruktion brach mit Hilfe von Narziss zusammen. Dann erst konnte Goldmund die Verbindung zur Mutter herstellen.5

 

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