4. Das Erlebnis der Einheit

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Hesses Auffassungen über den Menschen und seine geistige Entwicklung sind von großer Dynamik. Es darf keinen Stillstand geben. Der eine Pol drängt zu seinem Gegenspieler und das Finden der Mitte transzendiert die Extreme.

Wir dürfen davon ausgehen, dass Hesse diese Dynamik in seinem eigenen Leben auf jeder seiner Altersstufen vollzogen hat. Und wir werden nicht überrascht sein, sie in der Gestaltung und Darstellung der Hauptfiguren Sinclair, Siddhartha, Harry Haller, Goldmund, Josef Knecht wiederzufinden. Hesse dichtete ja, ähnlich wie Goethe, indem er seine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse zum Ausgangspunkt seiner Dichtung nahm.

Die Dynamik der Ich-Entwicklung zielt auf das Finden des Gleichgewichts der inneren Kräfte ab. Hesse selbst hat diesen Punkt als Weisheit, Mitte, Leere usw. bezeichnet. In seinem für das Verständnis seines spirituellen Weges grundlegenden Aufsatz „Mein Glaube“ aus dem Jahre 1931 hat er ihn als den Gedanken und als das Erlebnis der Einheit allen Seins charakterisiert.

Hesse führt im Einzelnen aus, warum er, obwohl protestantisch erzogen, kein gläubiger, die evangelischen Kirchen unterstützender Anhänger der Lehren Luthers geblieben ist. Er führt aus, warum er - im Gegenzug wäre es ja denkbar gewesen - keine Katholik wurde, obwohl er zugibt, einen Hang in dieser Richtung gespürt zu haben. Er erläutert seine Faszination durch den Buddhismus, Hinduismus und Taoismus. Am Schluss seines so aufschlussreichen und interessanten öffentlichen Bekenntnisses fasst er seine Position in den Worten zusammen:

„In meinem religiösen Leben spielt also das Christentum zwar nicht die einzige, aber doch eine beherrschende Rolle, mehr ein mystisches Christentum als ein kirchliches, und es lebt nicht ohne Konflikte, aber doch ohne Krieg neben einer mehr indisch-asiatisch gefärbten Gläubigkeit, deren einziges Dogma der Gedanke der Einheit ist. Ich habe nie ohne Religion gelebt, und könnte keinen Tag ohne sie leben, aber ich bin mein Leben lang ohne Kirche ausgekommen.“

Wir verstehen Hesse richtig, wenn wir seine Position mit den Worten formulieren: Er hat zu einer eigenen, transkonfessionellen und sogar transreligiösen Form der Gläubigkeit gefunden. Der Dialog der Religionen und Kulturen findet in Hesse einen weitsichtigen und kompetenten Vorläufer. In der Tat bleibt bei Hesse der sich entwickelnde Mensch nicht bei der Ausprägung seines Ichs stehen. Die grundlegende Lebensdynamik verlangt dem älter werdenden Menschen die Überwindung der Ichbezogenheit  und schließlich das Erlernen des Dienens ab. Man wird also sagen können, dass das Aufzeigen der Ich-Werdung, aber auch an die Entwerdung des weise gewordenen Ichs wie zwei Pole zugrundeliegt, aus deren Anziehung und Ergänzung Hesses dichterisches Werk hervorgegangen ist.

Nun kehren wir zu unserem Stichwort, dem „Gedanken“ der Einheit“ zurück. Seine Ausgestaltungen gehören zu den Höhepunkten der Romane Hesses. Ich zitiere aus dem „Siddhartha“ (1922).

Meditationstext zum Thema: Das Erlebnis der Einheit.

„Siddharta lauschte. Er war nun ganz Lauscher ...  sein Ich war in die Einheit geflossen.

In dieser Stunde hörte Siddharta auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte auf zu leiden. Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens … der Einheit zugehörig.“

S. 258 f. Am Ende des Kapitels Om.

Der Dichter baut die Dastellung der Einheitserlebnisses seines Helden Siddhartha kunstvoll als eine Steigerung auf, die in die Aussage einmündet: Das Ich (Siddharthas) war in die Einheit geflossen. Bemerkenswert der Einstieg mit dem „lauschenden“ Siddhartha, der seine Ohren sozusagen über den Fluss gelegt hat und die ewigen Gestaltungen und Wandlungen des Lebens wahrnimmt. „Hermann Lauscher“ heißt ja die erste Schrift  Hesses aus dem Jahre 1901.

Wir sehen also Siddhartha am Fluss ankommen, nachdem er das „falsche Ich“, das er  als reicher Kaufmann aufgebaut hatte, aufgab und sich von neuem auf die Suche gemacht hatte. Am Fluss ankommen, bedeutet in die eigene Seele zu schauen. Er sieht darin zunächst sein Leiden am Leben und die schwarze Verzweiflung. Doch er besinnt sich zum Positiven und wird dabei von der Erinnerung an das Om-Singen aus seiner Kindheit geführt. So kann er seine Sehnsucht nach dem Tode überwinden und einen neuen Willen zum Leben in sich entdecken. Das oben zitierte Erlebnis der Einheit beschreibt eine neue Erkenntnisstufe im Prozess des Erwachens von Siddhartha. Siddhartha empfindet sich nicht mehr als ein gesondertes Ich, sondern als Teil des Lebensflusses an und für sich.

Siddharthas Erlebnis des Erwachens findet auf den letzten Seiten des Romans als er seinem Jugendfreund Govinda wieder begegnet, eine weitere, noch intensivere dichterische Ausgestaltung. In dem großen Roman „Narziss und Goldmund“(1930) erlebt Goldmund in christlicher Ausprägung ähnliche Einbrüche in die Welt seines Egos und im „Glasperlenspiel“ (1943), mit dem Hesse sein dichterisches Schaffen krönt, finden wir den Gedanken und das Erlebnis der Einheit im chinesischen Gewand wieder.

Von grundsätzlicher Bedeutung für die Lehre vom Weg bei Hermann Hesse sind dabei drei Aspekte:

 

 

Hesse beschreibt den Zustand des „Lauschens“ am Anfang des Zitats in Worten, die für sich selber sprechen. Als Kaufmann war und mußte Siddhartha aktiv sein. Er mußte Geschäfte tätigen, seinen Vor-und Nachteil berechnen, Kunden gewinnen, die Geschäfte ausweiten usw. In der Sprache unseres Zitats heißt das: Er hatte „seine Seele“ an seine Geliebte und an sein Geschäft „gebunden“. Der Aufbruch nach neuen Ufern hat ihm dann geholfen, diese Identifikationen zu durchbrechen. Seine Leiderfahrung kommt eben daher, dass er diese Dinge nicht mehr hat, mit denen er sein Ego bislang aufgebaut hat.

Die Hingabe an den Strom des inneren Geschehens ist ein Ereignis der Meditation als innerer Schau. Die im Unbewußten gespeicherten Bilder steigen auf. Der Meditierende erfährt seine wahren Bedürfnisse und kann sich an ihnen orientieren. Die Meditation hat eine äußere Ähnlichkeit mit dem Traum. Doch im Unterschied zum Träumen ist der Geist hellwach.

Den Begriff „Nirvana“ kannte Hesse aus der Literatur. Er wurde in diesen Jahren der Selbstfindung (1912-1922) zu seinem Leitbegriff. Hesse bezeichnete damit die „Rückkehr des Einzelnen zum ungeteilten Ganzen“ (siehe den Materialienband zu „Siddharta“ S. 20). Der Bewußtseinszustand der Leere hilft dem Meditierenden, das Leiden zu überwinden.

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