Brief zur Zehnten Elegie - A. Die Einleitung

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"Der Sänger" - damit würde ich gerne wie gewohnt anfangen. Doch das "ich" des Sprechers deutet nicht auf den Sänger, sondern auf den Dichter selbst. Er stellt sich vor uns hin und bekennt seinen Wunsch nach Ruhm. Vieles wünscht er sich, auch den Jubel. Auf keinen Fall wünscht er sich die Klage. Aber sie ist es, die immer mehr in den Vordergrund der ersten Strophe tritt. Wie ist das möglich? 

Natürlich entsteht mit diesem hoch gestimmten Anspruch auf Ruhm auch die Angst, zu versagen. Ich spüre diese Angst auch in mir, dass mir plötzlich noch der Atem kurz vor dem Erreichen des Zieles: dem Fertigstellen dieser Briefe, ausgehen könnte. Ich habe Dir, M., ja davon erzählt. Du hast mir geraten, darauf einzugehen. Das tue ich hiermit. Ich stelle fest, dass die Angst verschwindet, sobald ich mit dem Schreiben anfange. Sie besteht also nur im Vorhinein und im Kopf. Sie ist nicht real. Die Fertigstellung meines Manuskriptes ist nicht wirklich aufzuhalten, weil ich entschlossen bin, es zu einem guten Ende zu bringen. 
Anders beim Dichter der Elegie, der als "Ich" vor uns getreten ist. Seine Angst scheint ihn immer stärker zu beschäftigen. Wird es ihr gelingen, die Haltung der Rühmung zu verdrängen und eine Klage daraus werden zu lassen? 

Schauen wir im Text nach, wie die Hinweise auf die Klage - das zentrale Thema der zehnten Elegie - sich verdichten und aus dem Untergrund der Sprache an ihre Oberfläche drängen. 
Zunächst war es nur der Hinweis auf die "Hämmer des Herzens", dass sie versagen könnten. Es folgt der Hinweis auf das "unscheinbare Weinen", gefolgt vom Hinweis auf die "gehärmten Nächte". Der "Harm" ist ein altes deutsches Wort für den Kummer. Die Sprache spricht z. B. von einem "abgehärmten Gesicht". Wie ein Felsbrocken den Weg versperrt, so findet sich jetzt im Text schließlich die ausrufende Feststellung: "Wir, Vergeuder der Schmerzen". 
Jetzt ist sie an die Oberfläche hervorgetreten. Aus dem gewünschten "Jubel" des Anfangs der Elegie ist nun eine Klage geworden, begleitet von Kummer und Schmerz. Das Leben, eine Schule des Leids, eine gängige Auffassung. Ist es das, was der Dichter meint? 
Rilke weiß, wovon er spricht. Es gab in seinem Leben nicht nur die Perioden unter dem Schutz seiner Wohltäter in den Schlössern, sondern auch die vielen Einsamkeiten der Armut in Paris, Rom, Florenz, Viareggio, Venedig, Toledo, Ronda, wo er, am Existenzminimum lebend, nur noch sein Schreiben als Begründung für sein Leben hatte. Es waren dies seine besten Zeiten der tiefsten Inspiration. "Wir" also - ich komme zum Text zurück - möchten nicht leiden, wir möchten den Schmerz möglichst verkürzt sehen. Dabei ist er aber - jetzt beginnt die Rühmung der Klage - der eigentliche Nährboden u.a. der dichterischen Inspiration. Der Dichter drückt diesen Gedanken am Ende der ersten Strophe mit den Bildern vom "winterwährigen Laub" und vom "dunkelen Sinngrün" aus. Während das angehäuftelte Laub den Boden schützt, kann das neue Leben sich für den kommenden Frühling bereiten. Werden und Vergehen sind eins. Unser Leben ist Bestandteil des Kreislaufs der Natur. Von hier aus bezieht es seinen Sinn. Die dritte Botschaft zum Thema Leid und Schmerzen ist schließlich die Formulierung am Ende der ersten Strophe, dass sie "eine der Zeiten des heimliches Jahres" bilden (Hervorhebung von RMR). Ich verstehe dies in dem Sinne, dass es immer Zeiten der Schmerzen geben wird, die mit denen der Freude wechseln werden. 

Wie Du siehst, hebt der Dichter mit seinen Aussagen über die Bedeutung der Schmerzen in unserem Leben hervor, dass sie unentbehrlich seien. Möge es uns gefallen oder nicht. Es ist dies der Inhalt der "grimmigen Einsicht", von der gleich im ersten Vers die Rede ist. Damit umschreibt er einen existentiellen Tatbestand. Der "Jubel und Ruhm" hebt sich davon als subjektiver Wunsch ab. 

Wenn jetzt die "zustimmenden Engel" hinzukommen, wirst Du Dich gewiss an den Anfang der ersten Elegie erinnert fühlen. Die Engel sind die Zeugen unseres Handelns auf Erden. Das ist dem Anfang und dem Ende der "Duineser Elegien" gemeinsam. Auch das mutige "Ich" gleich zu Beginn der Elegien ist schon da. Doch die Unterschiede in der Botschaft sind gewaltig. Dort, in der ersten Elegie, erleben wir den Dichter in heller Verzweiflung. Hier aber steht er fest auf dem Boden der Tatsachen des Lebens und darf die Aussicht pflegen, dass die Engel seinem Gesang dereinst zustimmen werden. Allerdings ist die Verzweiflung nicht einfach weggeblasen. In der "grimmigen Aussicht" bleibt sie präsent. Sie wurde im Verlauf der Elegien in das Ganze von Leben und Tod sozusagen integriert. 

Mein Eindruck von dieser ersten Strophe der zehnten Elegie ist, dass der Dichter sich selbst und uns Menschen vor die Tatsache stellt, dass wir uns eines Tages, "dereinst", von einer höheren Macht ("Engel") im Augenblick z. B. unseres Todes verantworten müssen. Sollte sich dann herausstellen, dass wir unsere Schmerzen "vergeudet" hätten, würde dies unser Leben infrage stellen.

>> B. Die Leid-Stadt

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