Der vierte Brief

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Liebe Freundin, lieber Freund der Dichtung,

      die vierte Elegie wurde am 22. und 23. November 1915 in München geschrieben. Es sind seitdem fast neunzig Jahre vergangen. An den Grundtatsachen unseres Lebens aber hat sich seitdem nichts geändert. Es sind nicht allein die Vergänglichkeit und begrenzte Dauer, gegen die der Dichter rebellierend klagt. Es ist genau so auch die innere Zerrissenheit des Menschen, dass er aus dem Stückwerk nicht hinaus zu gelangen scheint, die den Zorn und die Trauer des Dichters herausfordern.

Ich lade Dich ein, genauer hinzuschauen, was und wie der Sänger der Elegie uns zu bedeuten hat. Sollte Dich diese Elegie in einen depressiven Zustand versetzen, vergiss nicht, dass sie die letzte ist, die uns mit unserem Schatten konfrontiert. Es handelt sich um die letzte  „dunkle Nacht der Seele“, die wir durchzumachen haben. Und vielleicht erinnerst Du Dich an den Spruch: Das Licht wird in der Finsternis geboren. Damit wird angedeutet, dass das Leid nicht umsonst ertragen wird. Etwas zugespitzt formuliert, könnte man sagen: Wer die Dunkelheit nicht erträgt, wird auch nicht ins Licht gestellt.

 

Nun aber unser Durchgang durch die vier Strophen. Die erste Strophe bringt den Anschlusss an die vorhergehende Elegie mit dem Thema der Vergänglichkeit. Die vierte Strophe schließt mit dem Hinweis auf den Tod ab. Die Strophen zwei und drei beschäftigen sich in sehr ausführlicher Weise mit der „Bühne“ im Inneren des Menschen.

 

Der Gedanken der Vergänglichkeit erfährt in der ersten Strophe eine weitere Vertiefung. Unser Leben lässt sich im Gleichnis des Baumes darstellen. Wir wachsen und wachsen und eines Tages welken wir und werden schwach oder werden gar von unachtsamen Menschen „gefällt“. Die Frage des Sterbens gehört zum Leben hinzu. Wir müssen darauf gefasst sein, dass wir und unsere Nächsten plötzlich „winterlich“ d.h. alt werden und die endgültige Abberufung erfahren.

Mit der nächsten Verszeile schlägt der Sänger das eigentliche Thema dieser vierten Elegie an: die Zerrissenheit des Menschen und seine Absonderung vom Kreislauf der Natur. Dieser Gedanke wird in zwei aufeinander folgenden Bildern konkretisiert: in den Zugvögeln und in den Winden. Was der Mensch auch tut, vielleicht sogar in guter Absicht, es passt nicht in die kosmischen Abläufe. Demgegenüber das „herrliche“ Handeln der Löwen. Wie beschämend für den „Herrn der Schöpfung“ als den sich der Mensch versteht!

Der Mensch unterscheidet sich vom „Löwen“ und von den „Zugvögeln“ durch sein Wissen um die Vergänglichkeit seines Lebens. Es kommt hinzu, dass der Mensch aus der Ordnung der Natur heraus gefallen ist. Seine Handlungen scheinen von Willkür erfüllt zu sein. Oft kommen sie zu spät. Der Dichter bannt den Vergleich des Menschen mit den Tieren ins Bild der Zugvögel. Sie kennen den richtigen Zeitpunkt für ihr Kommen und Gehen. Wir Menschen hingegen kennen ihn nicht. Dadurch ist das natürliche Selbstbewusstsein, das den Löwen auszeichnet, dem Menschen verloren gegangen. Wir Menschen leben ohne Kraft und außerhalb der Harmonie mit der Natur.

 

Die zweite Strophe vertieft das Thema der Vergänglichkeit, setzt aber andere Akzente. Das Leben des Menschen ist zwischen entgegen gesetzten Polen gespannt. Es gibt keine Ruhe. Das Leben pendelt hin und her, vor und zurück und wo es das Eine erreicht hat, geht es ruhelos in das neue Gegenteil über. Ist es nicht dem Theater vergleichbar? Was kommt, wenn der Vorhang unseres Innern aufgehen würde: was käme da auf die Bühne? Die Frage dürfen wir uns selber stellen, bevor wir uns mit Rilkes Antwort auseinander setzen. Nun, es gibt Annäherung, Nähe, vielleicht sogar Zuneigung, dann aber Einsamkeit und Tod.

Der Sänger berichtet von einem Garten, der auf „unsicheren Beinen“ schwankt. Handelt es sich um das Erinnerungsbild an den Garten der eigenen Kindheit? Handelt es sich um eine gemalte Kulisse, die unter den Schritten der Schauspieler erbebt? Vielleicht handelt es sich auch um beides. Da treten viele „Tänzer“ und „Figuren“ auf. Der dritte Absatz und die dritte Strophe benennen sie: Die Puppe und der Engel, der Vater und das Kind.

Doch bleiben wir bei der erst genannten Figur: dem Tänzer. Die Vorstellung, die der Sänger von ihm äußert, ist nicht sehr schmeichelhaft. Der Sänger nimmt ihm übel, dass er wie Alle aufs Äußere aus ist. Der Tänzer als Bürger verweist aber auf den anderen Tänzer, der nicht spielt, der uns zu gegebener Zeit mit ernster Miene entgegentritt und uns bedeutet: Jetzt ist deine Sanduhr abgelaufen. Vorher allerdings gilt es noch, die Einsamkeit und  ihre Bitterkeit auszuhalten, die „Leere“, von der schon in der ersten Elegie so deutlich die Rede war. Das Ende der vierten Strophe lässt es denn auch heraus, wovon hier noch (Ende der zweiten Strophe) in Andeutungen („Leere“) die Rede ist. Es geht um die rechte Einstellung zum Tod.

 

Einen Schritt weiter in die innere von Rilke auch existentiell erfahrene Finsternis führen uns die jetzt anschließenden Zeilen der zweiten Strophe. „Die Lampen gehen aus“: Das Schauspiel des Lebens ist beendet. Es ist nur noch „das Leere“ und bildet einen „grauen Luftzug“. Damit rückt der Sänger den Vorgang auf der inneren Bühne nahe an den Tod heran. Der scheint zu winken. Wir finden das Adjektiv „grau“ noch einmal weiter unten im Zusammenhang mit dem Tod des Kindes am Ende der Elegie wieder. Obwohl der Sänger sein Aushaltenwollen in der Verzweiflung des Sterbens versichert: „Es giebt immer Zuschaun“, widersteht er der Versuchung nicht, die leere Bühne neu zu bevölkern. Er bevölkert sie mit der Puppe und später mit dem Vater und dem Engel. Das wäre „endlich Schauspiel“, sagt er, wenn Engel und Puppe auftreten würden. Er verwirrt uns damit nicht wenig. Denn was hat der Engel aus der ersten und zweiten Elegie mit der Puppe aus der vierten Elegie zu schaffen? Und doch beharrt der Sänger auf dieser „unheiligen“ Verbindung.

 

Doch sind wir jetzt vorausgeeilt. Mit „Hab ich nicht recht?“, unterstreicht der Sänger zu Beginn der dritten Strophe die Aussage, dass das Leben bitter ist. Parallel zur Vision der Mutter in der dritten, erleben wir jetzt die Vision des Vaters und des Kindes in dieser vierten Elegie. Als Angehöriger des Totenreichs genießt der Vater wie alle Toten die Gleichmut. Doch scheint dieser nicht so „felsenfest“ zu sein, dass er nicht auch erschüttert werden könnte. Die Sorgen des Sohnes um seine Zukunft, seine Einsamkeit und seine Trauer, berühren den toten Vater. Der Sohn spürt dies „innen in sich“, „in seiner Hoffnung“. Die Sorge des Sohnes, seine Beunruhigung erfährt durch den Gedanken an die verlassenen Geliebten eine weitere Intensivierung. „Hab ich nicht recht?, fragt er zum zweiten Male, dieses Mal nicht den Vater, sondern die Frauen, die ihn, den Dichter, geliebt haben. Sie haben ihn „für den kleinen Anfang Liebe zu euch“ ins Herz geschlossen. Er aber war nicht fähig, diese Liebe weiter zu pflegen. Er erklärt es damit, dass er sagt, dass „mir der Raum in eurem Angesicht, da ich ihn liebte, überging in Weltraum, in dem ihr nicht mehr wart…“

Die Beunruhigung, die der Dichter durch diese beiden Vorstellungen erfährt, ist so stark, dass er in seiner Not den Engel auf die Bühne des Innern rufen muss. Erst mit dem Auftritt des Engels ist die Bühne voll besetzt und das Gleichgewicht wieder hergestellt: „Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel“.

Ich lege an dieser Stelle eine kleine Pause ein, die uns Gelegenheit geben soll, unsere Gedanken und Gefühle zu ordnen. Das Geschehen auf der inneren Bühne, das aus der zweiten in die dritte Strophe hinüber greift, ist sehr dicht und kommt mir schwer verständlich vor. Man erfühlt beim Lesen dieser Stelle aus der dritten Strophe, dass der Engel und die Puppe Gegenspieler sein müssen. Die Frage stellt sich aber: um was für Antipoden handelt es sich?

Nun, über die Puppe haben wir in der zweiten Strophe erfahren, dass sie dem Sänger der Elegie lieber als der Tänzer sei. Die Puppe, so sagt er, bestehe aus „Aussehen“. Sie ist was sie scheint, eine Puppe. Sie kann nicht vortäuschen. Deshalb sei sie „voll“. Wichtig noch die Bezeichnung „Balg“ für die Puppe. Sie sollte uns vor einer Überschätzungen in der Bewertung der Bedeutung der Puppe in den DEL bewahren.

Insgesamt gesehen, dürfen wir vermuten, dass die Puppe für das Unbewusste im menschlichen Bewusstsein steht. Wenn nun der Engel auf sie stößt und sie „hochreisst“, treten sich das Unbewusste und das Überbewusste gegenüber. Der Engel steht ja für das Absolute und nimmt den Platz Gottes in der traditionellen christlichen Hierarchie ein. Er übersteigt das Bewusstsein des Menschen bei weitem. Ich halte es deshalb für richtig, ihm einen eigenen Bereich zuordnen, den ich das „Überwußte“ nenne. Wir werden im zwölften Brief, mit dem ich meine Serie abschließen werde, auf diese „kosmischen“ Zusammenhänge zurückkommen.

Es kommt ein zweiter Zusammenhang hinzu. Wer die Schrift von Kleist „Über das Marionettentheater“ kennt, wird sich an den Marionettenspieler und seine geheimnisvollen Andeutungen erinnern. Die „Puppe“ steht auch hier für das Naiv-Unbewußte und Unschuldige. Sie weist zurück auf das Paradies als einen Zustand der Einheit. Der „Engel“ kommt im „Marionettentheater“ nicht vor, ist aber in den Bereich einzuordnen, wo das Denken und das Fühlen wieder zur Einheit finden werden. Kleist nennt diesen Bereich die Grazie. Wir werden zu Beginn des neunten Briefes über die achte Elegie wieder auf diese Zusammenhänge zurückkommen.

 

Die dritte Strophe ist damit aber noch nicht beendet. Sie bringt noch einen gewichtigen zweiten Teil. Es ist darin von „den Sterbenden“ und von den glücklichen „Stunden der Kindheit“ die Rede. Wie passen sie auf die Bühne unseres Innenlebens?

 

„Sieh die Sterbenden,

sollten sie nicht vermuten, wie voll Vorwand

das alles ist, was wir hier leisten. Alles

ist nicht es selbst.“

 

Mit diesen Worten zieht der Sänger das bittere Fazit aus dem Bisherigen des Schauspiels auf der Bühne unseres Innern. „Alles ist nicht es selbst“ – außer der Puppe, die aber keine Seele besitzt und dem Engel, der keinen Körper hat. Diese Einsicht wird, so meint der Sänger, den Sterbenden am Ende ihres Lebens geschenkt. Und uns, die wir dies lesen und es in uns aufnehmen, schon jetzt.

Und weiter geht die Rede des Sängers über zu einem neuen Kontrast: die Erinnerung an die Kindheit stellt sich ein. In der Gegenüberstellung zum „normalen“ Leben der Erwachsenen wird das Bewusstsein der Kinder in Übereinstimmung mit sich selbst beschrieben. Es handelt sich um ein „glückliches“ Bewusstsein. Der Sänger hebt in immer neuen Anläufen hervor, dass das Bewusstsein der Kinder der Zeit enthoben und voll geheimer Bedeutungen sei:

 

„O Stunden der Kindheit,

da hinter den Figuren mehr als nur

Vergangenes war und vor uns nicht die Zukunft.

Wir wuchsen freilich und wir drängten manchmal,

bald groß zu werden, denen halb zulieb,

die andres nicht mehr hatten, als das Großsein.

Und waren doch, in unserem Alleingehn,

mit Dauerndem vergnügt und standen da

im Zwischenraume zwischen  Welt und Spielzeug,

an einer Stelle, die seit Anbeginn

gegründet war für einen reinen Vorgang.“

 

Die Hervorhebungen stammen von mir. Was das Bewusstsein der Kinder auszeichnet, ist, dass es ganz da ist. Beim Spielen denken sie nicht an etwas anderes, sondern sie sind in ihr Tun ganz versunken. Mit dem Bild von der Stelle, die „seit Anbeginn gegründet war für einen reinen Vorgang“ hebt der Dichter zum dritten Mal die Bedeutsamkeit des kindlichen Bewusstseins hervor. Man spürt durch die Worte hindurch an der Eindringlichkeit des Sprechens, wie wichtig dem Dichter diese Erkentnis ist.

 

Die vierte Strophe, die nun folgt, wirkt in diesem Zusammenhang wie ein kalte Dusche. Eben noch sahen wir das Kind in seinem Spiel aufblühen. Jetzt wird es dahin gerafft. Die Frage ist schon Anklage: „Wer macht den Kindertod aus grauem Brot“? Es gibt hier die Möglichkeit, ins Biografische zu gehen und auf Rilkes Trauer über den Tod eines Knaben im Oktober 1915 zu erwähnen. Aber das wäre nur ein Ausweichen davor, dass das Leben „sehr deutlich mit uns ist“ . Die andere Möglichkeit besteht darin, den Gedanken an den Tod nicht abzuwehren, sondern zuzulassen. Genauer gesagt, geht es darum, den Tod als Gegebenheit in unserem Leben anzunehmen. Der Dichter spitzt diesen Gedanken zu, indem er aufzeigt, dass der Tod schon beim Kind mitspielt, ja sogar in die Zeit vor der Geburt hineinragt.

 

Wir sind damit am Schluss angelangt. Es gibt einen Text aus Rilkes Nachlass der beginnt mit „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“. Ich habe mich in den letzten Tagen damit auseinandergesetzt. Er erinnert mich in seinen Aussagen und Untertönen sehr an diese vierte Elegie:

 

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,

siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,

aber wie klein auch, noch ein letztes

Gehöft von Gefühl. Erkennst du´s?

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund

unter den Händen. Hier blüht wohl

einiges auf; aus stummem Absturz

blüht unwissendes Kraut singend hervor.

Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann

und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.

Da geht wohl, heilen Bewußtseins,

manches umher, manches gesicherte Bergtier,

wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel

kreist um der Gipfel reine Verweigerung. Aber

ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens...

Rainer Maria Rilke, Gedichte aus dem Nachlass II,S.94f.

 

Wir alle finden uns eines Tages „ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ und kreisen in unserer Not um die „Gipfel reiner Verweigerung“, wenn nichts mehr zu gehen scheint. Wir schauen dann voller Neid auf die „gesicherten“ und in sich selbst „geborgenen“ Tiere. Wir dürfen Rilke dankbar sein, dass er es auf sich genommen hat, die Not der Einsamkeit in Worte zu fassen, die auch noch nach mehr als achtzig Jahren bewegen.

© 2011 Johannes Heiner