B.2 Meditationen zu Texten aus dem "Stundenbuch"

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I,2 Ich lebe mein Leben

 

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

doch versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise jahrtausendelang,

und ich weiß noch nicht:

bin ich ein Falke, ein Sturm

oder ein großer Gesang.


Das Bild der Wachstumsringe eines Baumes wird zur Metapher für ein menschliches Leben im Aufschwung. Es ist das dynamische Leben eines jungen Menschen oder eines älteren Menschen, der nicht resigniert, der geistig „jung“ bleibt. Solange der Mensch eine positive Aussicht für die Zukunft hat, wird sein Leben „wachsen“.

Mit den „Dingen“ bedient sich der Dichter einer Ausdrucksweise, die ihm eigen ist. Die Wirklichkeit besteht „aus Dingen“, die Freude spenden in ihrer Schönheit, aber auch Widerstand entgegensetzen. Kurz, sie fordern zum Lernen heraus. Ich gebe mich nicht mit dem Anschein der Dinge zufrieden. Ich weiß, dass die Dinge, die auf mich zukommen, eine tiefere Bedeutungsebene besitzen. Ich mache mich auf, die „Dinge“ im größeren Zusammenhang ihrer Erschaffung zu erkunden. Die „Dinge“ bilden das „Dasein“ der menschlichen Existenz. So jedenfalls würde es Rilke in den „Duineser Elegien“ zwanzig Jahre später formulieren.

Aus den Wachstumskreisen des Baums wird in der 2. Strophe eine Spirale, die sich nach oben hin zu „Gott“ dreht. Mit „Turm“ ist das Herausragende des Gottesgedankens seit Tausenden von Jahren gemeint. Der Glaube an den Schöpfergott der Genesis bildet den Mittel- und Angelpunkt des jüdischen Denkens, aus dem das Christentum hervor gegangen ist. Immer ist es um „Gott“ gegangen. Doch nun geht es dem jungen Dichter Rilke um das eigene Sein. Es ist, als würde er sich mit „Gott“ vergleichen Und natürlich stellen sich dann Unsicherheiten ein: Bin ich wie ein „Falke“, so schnell und zielsicher; oder bin ich von der ungestalteten Kraft eines Sturms; oder werde ich die gestaltete Kraft eines „großen Gesangs“ besitzen?

Es sind bange Fragen an die Zukunft. Sie bedrängen den Menschen, der nach seiner Aufgabe im Leben sucht. Eine Zukunft zu haben, erfüllt ihn trotz der Sorgen mit einer gewissen Euphorie und mit Stolz.

Ein Blick auf die ästhetische Seite des Gedichts zeigt, dass Rilke gerne die Wortwiederholung und die Alliteration verwendet: „Ich lebe mein Leben“. Die Verse werden durch Kreuzreime geschlossen. Das Metrum ist der Jambus. Der Text besitzt einen starken aufsteigenden Rhythmus. Man könnte ihn klatschen – und gelangte in die Aufwärtsspirale eines gesteigerten Lebensgefühls. Diese und andere literarische Figuren erzeugen eine starke Musikalität, wie sie für die Gedichte von Rilke allgemein typisch ist.

 

 

© Johannes Heiner 01/2013

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