B.3 Meditationen zu Texten aus dem "Stundenbuch"

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I,3 Ich habe viele Brüder in Soutanen

 

Ich habe viele Brüder in Soutanen

im Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht.

Ich weiß, wie menschlich sie Madonnen planen,

und träume oft von jungen Tizianen,

durch die der Gott in Gluten geht.


Doch wie ich mich auch in mich selber neige,

Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe

von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.

Nur, dass ich mich aus seiner Wärme hebe,

mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige

tief unten ruhn und nur im Winde winken.


Während die erste Strophe mit ihrer unterschwelligen Erotik keine nennenswerten Schwierigkeiten bietet, verlangt die zweite Strophe nach Erklärungen. Man überliest sie leicht, tut sich aber keinen Gefallen damit. Sie formuliert eine erste Annäherung an die Vorstellung des Mönchs von seinem „Gott“. Diese Vorstellung scheint sehr befremdlich zu sein. Bringt sie „Gott“ doch in Verbindung mit ungewohnten Dingen aus der Natur.

 

Mein Gott ist dunkel“ –das ist eine der Hauptaussage des „Stundenbuchs“. Suchen wir zu verstehen: Rilke siedelt „Gott“ nicht mehr „im Himmel“ an. Es wurde ja bereits erwähnt, dass „der alte Gott“ nach Auffassungen von Nietzsche ausgedient habe. Die Suche nach dem „neuen Gott“ wendet sich der Erde zu, die das Wachstum als Zeichen einer unbegreiflichen, göttlichen Macht hervorbringt. Zum Prädikat „dunkel“ gesellt sich die Vorstellung von Tiefe. Im Erdreich befinden sich die Wurzeln. Sie wachsen in der Erde und „trinken“ aus ihrem Innern.

 

„Gott“ wirkt in der Tiefe der Erde und er treibt dort „Wurzeln“, die darauf warten, aus der Erde hervor zu wachsen und neue Früchte zu tragen. Der vorhergehende Text von den Wachstumsringen (I,2) hatte ja bereits auf Zukunft und Wachstum eingestimmt. Der Dichter greift jetzt das Bild vom Baum wieder auf und vertieft es „nach unten“. Zu beachten ist, dass der Dichter nicht sagt: Gott ist die Wurzel, sondern er sagt: er ist „wie hundert Wurzeln“. „Wurzel“ bleibt eine Metapher für einen Vorgang, der, wie wir später sehen werden, die menschliche Vorstellung übersteigt.

 

© Johannes Heiner 01/2013

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