B.4 Meditationen zu Texten aus dem "Stundenbuch"

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I, 4 Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen

 

Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen,
du Dämmernde, aus der der Morgen stieg.
Wir holen aus den alten Farbenschalen
die gleichen Striche und die gleichen Strahlen,
mit denen dich der Heilige verschwieg.

Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände;
so daß schon tausend Mauern um dich stehn.
Denn dich verhüllen unsre frommen Hände,
sooft dich unsre Herzen offen sehn.


 

Die Kunst des Ikonenmalers richtet sich nach Regeln. Während in der Moderne die Kreativität des Künstlers verabsolutiert wird, herrscht in der vom orthodoxen Glauben inspirierten Kunst das Regelwerk über den Künstler. Es gibt eine Tradition, die festschreibt, wie die Abbilder des Göttlichen auszusehen haben. Jeder, der Ikonen malt, muss sich an diese Regeln halten.

 

Der zweite Vers spielt wahrscheinlich auf die Maria an; es ist schwer vorstellbar, dass Gott als weibliche Gottheit gemeint ist. Über „den Heiligen“ kann ich nur rätseln. Ich habe keine schlüssige Erklärung dafür gefunden. Denkbar wäre eine Anspielung auf Jesus Christus, der seine Mutter ja manches Mal schroff belehrt hat, dass er nicht mehr ihr Sohn, sondern der Sohn Gottes sei. Ein Beispiel dafür ist der Bericht des Evangelisten Johannes über die Hochzeit von Kanaa.

Für die religionskritische Botschaft des „Stundenbuchs“ ist die zweite Strophe von Gewicht. Die Beschäftigung mit Gott führte dazu, „Wände“ und „Mauern“ aufzubauen. In der Dogmatik werden die theologischen Aussagen festgelegt. Damit werden abweichende Vorstellungen immer auch ausgegrenzt.

Der Dichter Rilke sucht nach einem „freien“ Gottesbild, genauer gesagt, er forscht in seinem Innern nach den Spuren eines wirklich existierenden Gottes. Gottesbilder interessieren ihn nicht. Sie verstellen das letzte Geheimnis, aus dem das Leben der Menschen hervor geht.

 

Aufschlussreich ist der Unterschied zwischen den „frommen Händen“ und den „offenen Herzen“ am Schluss. Die Hände der Menschen vollbringen viele Werke.Aber dieses Tun bleibt Bruchstück, so lange es nicht von Gott inspiriert ist. Und es bleibt an der Oberfläche, so lange es nicht von Herzensgüte geleitet wird. Es geht darum, das „Herz“ als das zentrale spirituelle Organ des menschlichen Lebens zu spüren und es zu öffnen.

 

 

© Johannes Heiner 01/2013

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