B.5 Meditationen zu Texten aus dem "Stundenbuch"

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I, 5 Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden


Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.

Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.


Interessant sind die beiden „Nacharbeitungen“ in den Strophen eins und zwei. Die erste Nacharbeitung stellt die „Dunkelstunden“ auf Abstand. Im Abstand stellt sich ein Déjà-vu-Erlebnis ein. Der Sprecher wird sich bewusst, dass das Neue Leben, nach dem er sich sehnt, in alten Zeugnissen durchaus schon bezeugt sein kann. Für Rilke als rasanten Briefschreiber ist dieser Vergleich mit „alten Briefen“ („wie in alten Briefen“) naheliegend. Der Vergleich mit Legenden von Heiligen und Helden geht in dieselbe Richtung einer Distanzierung und Verwesentlichung.

Nicht zu übersehen ist ein gewisser Widerspruch zwischen der Frische der angestrebten Sinneserfahrung und dem Papierenen von alten Briefen und Legenden. Das raschelt der literarische Blätterwald. Offensichtlich stützt sich Rilke nicht nur auf „die Sinne“, sondern auch auf Autoren wie Dante und Michelangelo. Doch die Aussagen der Verse eins und zwei werden dadurch nicht getrübt. Es geht sowohl um das Leben als auch um Lebens-Vorbilder bei vergangenen Autoren, mit denen Rilke sich eingehend beschäftigt hat. Es ist z.B. überliefert, dass er und Lou in der Hochzeit ihrer Liebe 1898 die „Vita Nova“ von Dante gelesen haben.

Die zweite Nacharbeitung bezieht sich auf das Bild vom Baum in der zweiten Strophe. Auch hier reicht dem Dichter nicht die Aussage der Verse eins und zwei. Er illustriert seine Sehnsucht nach einem „zweiten zeitlos breiten Leben“ mit einem Baum, der über dem Grab eines Knaben steht. Damit nicht genug, „erfüllt der Baum den Traum dieses Knaben“: Er ist „reif“ und „rauschend“, während der „vergangene Knabe“ sich „in Traurigkeiten und Gesängen“ verloren hatte. Man bemerke wieder die Alliterationen von „reif“ und „rauschend“ und von „warme Wurzeln“.

Nun, das ist sehr stark nachgearbeitet, mir fällt dazu das Wort „preziös“ aus der Lyriktradition von Petrarca ein. Ich könnte auch sagen: typisch Jugendstil. Eine Weide genügt nicht, sie muss eine Trauerweide sein und unter ihr sitzt dann vermutlich ein trauriges Mädchen mit schönen langen Haaren. Das ist keine Verurteilung, sondern ein Hinweis auf den Geschmack der damaligen Zeit. Es schmälert nicht das ungewöhnliche Wort von den Dunkelstunden der Seele und dass sie eine Berechtigung haben, ernst genommen zu werden.

 

 

© Johannes Heiner 01/2013

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