Handreichung für Steppenwölfe und Berghexen - 2. Der Kommentar

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Manche Hesse-Leserin und mancher Hesse-Leser machen einen Bogen um dieses Buch. Sie haben Angst vor dem „Experiment“ Hallers, für Momente die alte Persönlichkeit abzulegen und nach neuen Werten jenseits der bürgerlichen Tabus Ausschau zu halten. Wahrscheinlich ist ihnen das Buch zu radikal. Andere Leserinnen und Leser stoßen sich an der elitären Sprache: dort die Masse Mensch, hier das vereinsamte Genie. Wer hält sich schon für ein Genie?! Dabei hat Hesse in seinen Erzählungen immer den Anschluss an die kleinen Leute gesucht. Man wird ihn kaum des elitären Denkens bezichtigen können. Er hat vielmehr die Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Blick gehabt und voraus geahnt, die Millionen von Menschen das Leben gekostet haben. Hätten diese Menschen, statt Hitler oder Stalin zuzujubeln, es auf sich genommen, ehrlich nach sich selbst zu forschen und ein Individuum zu werden, wäre das Unglück nicht passiert. So könnte man die Meinung des Autors vom „Steppenwolf“ und sein „Programm“ umschreiben. 


Warum sollte man dieses Buch lesen?
Die Kritik Hallers am Bürgertum, die auf den ersten Seiten der „Aufzeichnungen“ vorgeführt wird, ist seit der Romantik sattsam bekannt und wird die Leserinnen und Leser gewiss nicht vom Hocker hauen. Interessanter wird es, wenn Haller sich mit dem Gedanken an den Selbstmord beschäftigt. Auch heute leidet das Leben unter einem Verlust an Sinnhaftigkeit. Die Begegnung mit dem Tod ist immer geeignet, die wahren Gründe für das Leben hervorzubringen. Spannend wird es, sobald Hermine ins Spiel kommt. In den „Maskenball“ und das sich anschließende „Magische Theater“ findet man sich gerne hinein und liest mit Gewinn bis zum Ende der „Aufzeichnungen Harry Hallers“. 

Um was für einen inneren Gewinn beim Lesen könnte es sich handeln?
Das „Magische Theater“ hält ja nicht nur Harry Haller, sondern auch dem Leser selbst den Spiegel vor die Nase. Wer offen dafür ist, einen Blick über den eigenen Tellerrand zu werfen, wird ein köstliches Vergnügen daraus schöpfen, den schießwütigen Revolutionär, den Magier seines Innenlebens, den aggressiven Wolf, den sexbesessenen Liebhaber zu spielen und sich dann zur „Hinrichtung“ zu begeben, zur Strafe, die darin besteht, dass man sich ein Mal im Leben Mozarts „Zauberflöte“ anhören oder Goethes „Faust“ ansehen muss und für die Dauer von zwölf Stunden das „Magische Theater“ nicht betreten darf.

Vielleicht war es in den 68er Jahren auch ein Lesemotiv, etwas über den Gebrauch von Drogen zu erfahren. Doch da wird man enttäuscht werden. Pablo verrät nicht, was genau er in seine Zigaretten hinein gedreht hat. Es wird nur die Auswirkung einer milden Dosis von Opium geschildert. Sie macht das Leben erträglicher. Aber dies weiß man schon vorher. 

Nein, der Gewinn liegt sicherlich mehr in Hesses Hinweisen, dass das Leben sehr viel mehr zu bieten hat, als das, war der Bürger darunter versteht und was das Genie anstrebt, ohne es genau zu wissen. Der Bürger hält das Leben unter Verschluss, weil er Angst vor den Extremen hat. Hesse befreit das Leben aus der Konserve. Er öffnet den Blick für Möglichkeiten, deren Erleben ein Mehr an Selbstbewusstsein und Toleranz erbringen. Damit ermutigt er die Sucher unter seinen Leserinnen und Lesern, ihre je eigenen Wege zu gehen. 

 

>> 3. Wie sollte man den "Steppenwolf" lesen?

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