"Wege ins Dasein."
Spirituelle Botschaften der Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke.
Mit zehn Skizzen von Marita Hünsch.
Edition Goldbeck-Löwe, Berlin, Dezember 2008 (2. neu überarbeitete Auflage).
Jedes Exemplar handgebunden in Leinen.
Rainer Maria Rilke hat sich die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach dem Sinn seines Lebens als Dichter gestellt.
Die "Elegien" zeigen Antworten in der Form von poetischen Metaphern auf. Das Buch versucht sie zu deuten - fernab der germanistischen Fachsprache, sondern gut verständlich für interessierte Laien geschrieben.
Sehr geeignet für das Selbststudium der "Elegien".
Interview
vom 10. Juni 2004
Frage: Was genau enthält Ihr neues Buch?
J.H.: Das Buch enthält 1. den Text der Elegien. 2. Einen Kurzkommentar zu jeder Zeile. Die Kurzkommentare vermitteln das notwendige Sachwissen, das die Leserin der Elegien braucht. 3. Die anregenden Skizzen der Malerin Marita Hünsch und 4. meine Auseinandersetzung mit den Elegie in zehn Kapiteln.
Frage: Handelt es sich also um einen neuen Kommentar?
J.H. Nein, es handelt sich um die Aufzeichnung meiner Auseinandersetzungen mit den Botschaften der Elegien. Ursprünglich als „Briefe an meine Freunde“ verfasst, habe ich sie umgearbeitet, damit sie über den Freundeskreis hinaus interessant würden.
Frage: Was wäre also der Unterschied zwischen Ihrem Buch und einem Kommentar?
J.H.: Kommentare haben einen hohen wissenschaftlichen Anspruch. Den habe ich nicht. Ich habe mich durch meine spirituelle Entwicklung von der Wissenschaft entfernt. Doch es gibt einen gemeinsamen Kern. Das ist das Interesse an Sinnfindung. Ich suche nach einem Sinn für mein Leben. Dabei kann mir das authentische Sprechen Rilkes in seinen Elegien helfen – wenn es mir als Leser gelingt, mich nicht z.B. von den Kommentaren abschrecken zu lassen. Die Elegien sind ein schwieriges Werk. Das erklärt, warum viele Rilke-Leser einen Bogen darum herum machen. Das muss aber nicht so sein. Ich habe meine Darstellung deshalb in einer einfachen Sprache verfasst. Die einzelnen Kapitel sind wie Spuren im Sand. In diese Spuren kann jeder an Sinn interessierte Mensch hineinsteigen und sich meine Darlegungen zu eigen machen.
Frage: An welche Lesergruppe wendet sich Ihr Buch?
J.H. Es wendet sich an Menschen, die für sich das Spätwerk Rilkes erschließen wollen. Ich selbst bin durch die Helliinger-CD („Bernd Hellinger liest die Duineser Elegien“) und das Buch von Bassermann („Der späte Rilke“) zum Spätwerk Rilkes gekommen. Die Monografie von Ralph Freedmann im Insel-Verlag (Band 1: Der junge Dichter; Band 2: Der Meister) habe ich regelrecht verschlungen.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Leseprobe: Das erste Kapitel
Die erste Elegie bildet das Portal. Alle Themen werden angesprochen und kurz vorgestellt: der Engel, an den sich die verzweifelte Stimme des Dichters wendet; die Vergänglichkeit des Lebens; die Wahrnehmung der Natur ("Frühling"); die Liebenden; die Toten; die Musik (die Klage um Linos). Die folgenden "Gesänge" bilden thematische Schwerpunkte; die in der ersten Elegie mehr angedeuteten Themen werden nach und nach entfaltet.
Rilke hat die erste Elegie am 21. Januar 1912 auf Schloss Duino abgeschlossen. In Ronda ist im Winter 1912/13 der Text "Erlebnis I" geschrieben worden, der für die Deutung der "mystischen Seite" der Dichtung Rilkes von großer Bedeutung ist. Im Februar 1922, als er seinen großen Durchbruch hatte, übernahm Rilke die erste Elegie in der Fassung von Duino. Er hat sie seiner Gönnerin, der Fürstin Marie, nicht nur gewidmet, sondern übereignet. Deshalb liest man in jeder Ausgabe der Elegien den Satz: "Aus dem Besitz der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe".
(Meditationstext:)
"Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?"
Poxdorf, am 1. Februar des Jahres 2002
Als ich mich hinsetze, ist es draußen noch dunkel. Die Nacht muss sehr kalt gewesen sein. Der Frost glänzt als Raureif auf der Wiese.
Ich stimme mich auf mein Schreibvorhaben ein und schlage die Rilke-Chronik von Ingeborg Schnack auf. Unter "Muzot, den 1. Februar des Jahres 1922", also vor genau achtzig Jahren, steht zu lesen: "Kippenberg sagt R. eine erste Sendung von 500 Francs zu". Rilke lebte seit dem Herbst 1921 im Turm von Muzot. Rilkes Freunde hatten das alte Gemäuer notdürftig hergerichtet. In seinen Briefen nannte Rilke es großspurig "le château de Muzot". Es sollte der letzte Ort sein, an dem er Ruhe fand, und es wurde der Ort, an dem er das Elegienwerk vollendete. Schon manchen Anlauf hatte er genommen. Den Anfang hatte er im Sommer des Jahres 1912 auf Schloss Duino gemacht. Er entwarf dort die drei ersten Elegien. Rilke überarbeitete sie während seiner Spanienreise in dem Bergdorf Ronda, und im Spätherbst des Jahres 1913 schloss er sie in Paris ab. Rilke benannte sie nach Schloss Duino und widmete sie in dankbarer Erinnerung der Fürstin Marie von Turn und Taxis. Rilke hat die Widmung sogar noch gesteigert, indem er schrieb: Aus dem Besitz der Fürstin. In der Zeit vom 7. bis zum 11. Februar 1922 verfasste Rilke in Muzot die Elegien sieben bis zehn. Die fünfte schrieb er an letzter Stelle am 14. Februar.
Der Turm von Muzot wurde für Rilke ein Ort, an dem er ungestört arbeiten konnte. Hier erfuhr er eine gewisse Geborgenheit. Wie aus der "Chronik" hervorgeht, konnte Rilke seine materiellen Sorgen loslassen. Denn sein Verleger, Anton Kippenberg in Berlin, sorgte für ihn und schickte ihm Schweizer Franken für seinen Lebensunterhalt. Türme geben Schutz, sie isolieren aber auch. Man muss schon etwas Großes vorhaben, um sich freiwillig in die Einsamkeit eines solchen Rückzuges zu begeben. Ich sehe den Hölderlin-Turm am Neckar neben der großen Weide stehen. Ich sehe den von Carl Gustav Jung in Bollingen am See errichteten Turm. Rilke hat die geistige Ernte seines Lebens im Turm von Muzot eingebracht. Vielleicht braucht der Mensch den Schutz eines Turmes, wenn sich die Tiefe in ihm auftut.
Wenn die Tiefe aufbricht, löst sie erst einmal Angst aus. Sie wird als Abgrund empfunden - ein Bild, das in der Lyrik Rilkes von Anfang an eine große Rolle spielt. Erst dann, wenn die Angst überwunden wird, kann ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit entstehen.
Dem Bild des Turmes entspricht das des Brunnens. Sich zurückziehen heißt, nach der Quelle im eigenen Inneren zu suchen. Heißt, dass ich es wage, mich über den Rand zu beugen und in die Tiefe zu schauen.
Und was sehe ich?
Immer nur mich selbst. Auf dem Grund des Brunnes sehe ich - mein Spiegelbild.
Rilke Reise zu sich selbst vollzieht sich in den Elegien vor allem im Bild des Engels. Im Anblick des Engels schaute er, was er selbst nicht war: die Gleichmütigkeit des Schicksals. Und dennoch fasste er den Mut, im Buch seines Lebens zu lesen."
(Johannes Heiner, Wege ins Dasein, S. 3 ff.)