1. Der Eigensinn als Wegweiser zum Ich

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Mit dem Aufsatz „Eigensinn“ aus dem Jahre 1919 hat Hermann Hesse dem Leser seines dichterischen Werkes einen wichtigen Schlüssel für das spirituelle Verständnis sowohl des eigenen biographischen Weges, den er zurückgelegt hat, als auch für die Entwicklung und den Wandlungsprozess seiner Romanfiguren an die Hand gegeben.

Wer zu sich selbst finden möchte, so die These von Hesse, hat einen steinigen Weg vor sich. Er muss sich aus der Geborgenheit von Familie, Beruf, Heimat, ja sogar Vaterland lösen. Erst dann, in der sozusagen radikalen Vereinsamung, kann er seine wahre Bestimmung entdecken und den Ruf des Schicksals aufnehmen. Der Mensch, der sich gegen die Erwartungen seiner Umwelt behauptet, ist dabei, ein „Ich“ zu werden. Der Mensch, der seine wesenhafte Berufung erfahren hat, ist ein Ich geworden. Er hat die innere Unabhängigkeit von den konventionell gegebenen Rollen erlangt. Er braucht keine Maske mehr, weil er keine Angst mehr vor der Zurückweisung durch Menschen hat, die an ihren Rolle und Positionen festhalten.

Das Gespräch über diesen Weg, der von Hermann Hesse persönlich durchgefochten und dichterisch in immer neuen Varianten gestaltet worden ist, hat m. E. noch nicht begonnen. Ich hoffe, mit meiner Arbeit dazu beizutragen, dass es geführt werden wird. Ein solches Gespräch würde es dem suchenden Menschen erleichtern, den „richtigen“ Weg einzuschlagen.

Hesse ist in meinen Augen ein Mensch und Dichter, der diesen Weg unter großen Mühen gegangen ist, weil er, von C.G. Jung und seiner Schule abgesehen, keine Verbündeten hatte. Er war ein echter Pionier der Selbstfindung. Das haben viele Jugendliche auch in den USA am Ende der sechziger Jahren erkannt. In der heutigen Zeit ist es meiner Meinung nach nicht mehr ganz so schwer, Verbündete und Helfer zu finden, weil es viel mehr Menschen als zur Zeit Hesses gibt, die Bescheid wissen und beraten können.

 

Den „richtigen“ Weg einschlagen: Auf diesen Punkt möchte ich jetzt genauer eingehen, weil er zum Verständnis dieser Arbeit von grundlegender Bedeutung ist.

 

Wie jeder Pionier, der etwas entdeckt hat, das für die Entwicklung der Menschheit von großer Bedeutung ist oder sein kann, neigt auch Hesse in der Darstellung „seines“ Weges zu apodiktischen Formulierungen, die den Eindruck erwecken, als würde er den Anspruch erheben, seine „Lehre“ sei absolut gültig. Diese Formulierungen verraten m. E. etwas von den Schmerzen, die er erlitten und ausgehalten hat, um ans Ziel zu gelangen.

Doch befragte man ihn darüber, würde er jeden Versuch, die von ihm entdeckte Wahrheit absolut zu setzen, zurückweisen. Der Grund dafür liegt in der Natur der Sache. Jeder Mensch ist seinen Anlagen, Fähigkeiten und Begabungen nach ein einmaliges Wesen. Das zeigt sich schon im Gesicht und setzt sich fort in den differenzierten Empfindungen des Herzens und in den feinen Regungen, mit denen die eigene Seele zum Menschen spricht.

Wenn also der sich selbst suchende Mensch zu seiner Seele als dem innersten Grund seines personalen Seins durchgedrungen ist, wird er auf Kräfte stoßen, die auf der einen Seite einmalig und individuell und auf der anderen Seite transzendent und universal sind. Die personalen Kräfte erlauben es dem Ich, seine eigentliche Begabungen und Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln. Die transpersonalen Kräfte hingegen gestatten es dem Menschen, für Augenblicke  mit der göttlichen Ursubstanz des Lebens zu verschmelzen. Wir bewegen uns hier in einem Bereich, der gegenwärtig von der Mystik erforscht wird. Das bedeutet: Es gibt keinen an und für sich „richtigen“ Weg. Ein Jeder muss seinen eigenen Weg inmitten eines „dunklen Waldes“ (Dante) finden. Diesen Weg zu finden, dazu braucht es den Eigensinn eines Hermann Hesse.

 

Was nun hat der sich entwickelnde Mensch im Sinne des Eigensinns in der Hand, um aus dem „dunklen Wald“ herauszufinden? Welches „Licht“ kann seine Situation erhellen?

Prinzipiell gesehen, sind es drei Werthaltungen, die aber eigentlich nur eine einzige bilden:

 

  • Die Ehrlichkeit/Aufrichtigkeit.
  • Das Vertrauen in das Leben.
  • Fange zuerst bei dir selber an.

 

Von der Aufrichtigkeit spricht Hesse in dem Aufsatz über den Eigensinn nicht. Wir wissen aber aus seiner Biographie, seinen Briefen und der Tatsache, dass er viele Jahre in therapeutischer Behandlung war, wie sehr er sich um Ehrlichkeit bemüht hat. Ehrlich zu sein heißt, sich und anderen „reinen Wein“ einzuschenken. Heißt, mir eingestehen, dass ich diese und jene wichtigen Bedürfnisse habe. Heißt, Kritik anzunehmen. Heißt, meinen Ärger anzunehmen, wenn Menschen und Beziehungen nicht so sind, wie ich sie gerne hätte. Ohne Ehrlichkeit kann die Suche nach mir selbst nicht wirklich beginnen. Ohne Ehrlichkeit kann das Begehen des Weges nicht wirklich fruchtbar werden.

Um die zweite Werthaltung, das Vertrauen und ihr Erscheinen im Leben Hesses würdigen zu können, sollte man sich klar machen, dass Hesse sich ab 1912, dem Jahr des Scheiterns seiner Niederlassung in Gaienhofen bis 1919, dem Neubeginn in Montagnola, in seiner tiefsten Lebenskrise befand und sich durch Therapie, Meditation, Malen Wandern, Gärtnern, Schreiben nur langsam aus ihr herausgewunden hat. Offensichtlich war die Therapie erfolgreich, was auch heißt, dass Hesse sich wirklich darauf eingelassen hat. Und offensichtlich hat sie ihm geholfen, sich über seinen eigenen Weg klar zu werden. Und in unserem Zusammenhang wichtig, hat die Krisen-Erfahrung eine Neubesinnung in dem Sinne bewirkt, dass Hesse einen neuen Anfang in Montagnola ab 1919 gewagt hat.

Prinzipiell, vom Weg her gesehen, kommt der Vertrauensbildung eine ähnlich große Bedeutung wie der Ehrlichkeit zu. Der Mensch gelangt in die Krise, weil sich sein Vertrauen in das Leben sozusagen erschöpft hat. Er will so nicht mehr weiter leben, weil er keine Hoffnung mehr auf Veränderung hat. Hoffnung haben heißt, der Zukunft Vertrauen entgegenzubringen. Hoffnung schöpfen heißt oder kann heißen, zu verstehen, dass wenn ich die Dinge ändern möchte, um mehr Zufriedenheit zu erlangen, dass ich damit beginnen muss, der Welt, Gott, den von mir geliebten Menschen,  Vertrauen entgegen zu bringen.

In dem parallel zum Aufsatz „Eigensinn“ aufgezeichneten Bändchen „Wanderung“ (1919) drückt Hesse seine neu gewonnene Lebenseinstellung im Symbol des Baumes aus. Ich zitiere die Stelle ausführlich:

„Ein Baum spricht: Meine Kraft ist das Vertrauen. Ich weiß nichts von meinen Vätern, ich weiß nichts von den tausend Kindern, die in jedem Jahr aus mir entstehen. Ich lebe das Geheimnis meines Samens zu Ende, nichts andres ist meine Sorge. Ich vertrauen, dass Gott in mir ist. Ich vertraue, dass meine Aufgabe heilig ist. Aus dem Vertrauen lebe ich.

Wenn wir traurig sind und das Leben nicht mehr gut ertragen können, dann kann ein Baum zu uns sprechen: Sei still! Sei still! Sieh mich an! Leben ist nicht leicht, Leben ist nicht schwer. Das sind Kindergedanken. Lass Gott in dir reden, so schweigen sie (sc.die Bäume). Du bangst, weil dich dein Weg von der Mutter und Heimat wegführt. Aber jeder Schritt und Tag führt dich neu der Mutter entgegen. Heimat ist nicht da oder dort, Heimat in in dir innen, oder nirgends.“

Hervorhebung von mir, J.H.

Ein Wort zum Egoismus-Vorwurf an die Adresse von Hermann Hesse und von allen, die den Weg nach innen gehen.

Ich kann nachvollziehen, dass die Zeitgenossen diesen Vorwurf an Hesse gerichtet haben. Er hat sein Leben in der Schweiz in Sicherheit gebracht, als die Vaterländer in den Krieg ziehen mußten. Er hat seine drei Kinder weggeben, seine Frau im Stich gelassen usw., um einen neuen Anfang in Montagnola zu wagen. In gewisser Weise wird es, von außen betrachtet, immer so aussehen, als ob der Mensch, der sich auf die Suche nach dem Sinn seines Lebens macht, nur noch an sich selbst denken würde. Der Vorwurf des Egoismus bedenkt nicht, dass dieser Mensch sich auf dem Pfad der Abgrenzung befindet. Er ist ja dabei, eine neue Identität zu gewinnen. Wie sollte er da den bisherigen Rollenerwartungen, gegen die er rebelliert, genügen können?

Meiner Meinung nach stellt sich Egoismus erst dann als Lebenshaltung ein, wenn der bei sich selbst angekommene Mensch stehen bleibt und seinen Mitbrüdern und Schwestern die Ergebnisse seiner Suche vorenthielte. Für mich wäre das aber ein Widerspruch in sich. Wer sich selbst gefunden hat, spürt in sich die Sehnsucht, mit allen Menschen zu teilen. Der Buddha, der  als Bodhisattva vor dem Paradies wartet, bis alle Menschen erleuchtet sind, drückt diesen Sachverhalt sehr treffend aus.

Mit anderen Worten: das Finden des Ichs führt zur Entdeckung des Dus. In der Seele des Individuum gewordenen Menschen schlummert das Du des Mitmenschen. Das „Du“ wird seinem Wesen nach als Spiegelung des „Ichs“ erfahren. Zunächst ist es von Projektionen des Ichs auf das Du besetzt. Doch mit dem Bewusstwerden dieser Projektionen tritt das Du als unabhängige Instanz auf. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt zur wirklichen Würdigung des Dus. Jetzt befindet sich das Ich zum ersten Mal in der Position, den Mitmenschen als gleichwertig zum Ich aufzufassen.

Ein zentraler und für die Ich-Suche positiven Gedanken hat Hesse in dem schon zitierten Passus am Anfang dieses Kapitels formuliert. Das Finden des eigenen Ichs steigert die Lebenskraft des Menschen. Das ist ein sehr moderner Gedanke, der u.a. durch Wilhelm Reich von der Psychoanalyse auf die Ebene der Körperenergie übertragen worden ist. Menschen, die unterdrückt sind, gleichgültig, ob sie sich selbst unterdrückt haben oder unterdrückt worden sind, haben in ihrem Körper „Blockaden“ von angestauten Gefühlen gebildet. Es kann ja nicht bestritten werden, dass die Suche nach der eigenen Identität sich auch auf der Ebene des Körpers abspielt. Dadurch können Blockaden frei werden und den Fluss der Lebensenergie wiederherstellen. Der in diesem Sinne „gesundete“ Mensch verfügt über einen größeren „Vorrat“ an Energie.

Hermann Hesse konnte 1919 noch nichts über die neue Richtung der Bioenergetik oder Biodynamik wissen. Ich denke, dass er sie aber intuitiv praktiziert hat, indem er seine Spannungen durch ausgedehnte Wanderungen und tägliche Arbeit im Garten abgebaut hat. Die von mir anvisierte Textstelle lautet:

„Wer der Lebenskraft in seinem Innersten mißtraut, wem sie fehlt, der muss sie durch Ersatzmittel, wie Geld, kompensieren. Wer das Vertrauen zu sich selber hat, wer nichts anderes mehr wünscht, als sein eigenes Schicksal rein und frei in sich zu erleben und ausschwingen zu lassen, dem sinken jene überschätzten, tausendmal überzahlen Hilfsmittel (sc. Geld und Macht) zu untergeordneten Werkzeugen herab, deren Besitz und Gebrauch angenehm, aber nie entscheidend sein kann.“

Die religiöse Dimension des Prozesses der Ich-Findung wird von Hesse am Ende des Aufsatzes mit der Formulierung „Schicksal und Gottheit“ angedeutet. In dem späteren Aufsatz „Mein Glaube“ finden sich weitere Hinweise zu diesem Aspekt.

An dieser Stelle sei nur so viel vermerkt: In der Krise wird das Ich „neu geboren“.  Diese Metapher bezeichnet den Durchbruch zu einem neuen Identitätsbewußtsein. Im „Demian“ hat Hesse dafür das Symbol des Habichts, der aus dem Ei ausbricht, geprägt.

Es tut gut, zu sehen, dass Dichtung den Prozess der Ich-Findung anstoßen und beschreiben kann. Ich sehe in Hermann Hesse einen bedeutenden Initiator des schwierigen Prozesses der Ich-Findung. Hesse hat unzähligen Menschen in einer dunklen Zeit Mut gemacht. Er selbst hat es gewagt, sich zu vereinzeln und auf einem eigenen Sinn für sein Leben zu bestehen. In diesem Sinne bleibt sein Werk für die heutige Zeit ebenso aktuell wie in den zwanziger und dreißiger Jahren. 

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