3. Das Ich als Heimat und Zuhause

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Von der Einheit der Gegensätze.

Meditation zu dem Text „Rotes Haus“ in „Wanderung“ (1919)                  

Dieser kleine Text gehört zum Schönsten, was ich von Hermann Hesse insgesamt gelesen habe. Wir wollen uns behutsam nähern.

Wie wir wissen, wurden die Aufzeichnungen „Wanderung“ im Jahre 1919 anlässlich des Wechsels Hermann Hesses von „Norden“ nach „Süden“ geschrieben. Der Autor stand in diesem Jahr am Kreuzweg seiner Vergangenheit und Zukunft.

1912 ist das Datum seines Scheiterns als seßhafter Bürger in Gaienhofen. Die Ehe mit Maria Bernoulli, einer Schweizer Fotografin, aus der drei Kinder hervorgingen, war nicht mehr zu retten gewesen. Auch der erneute Versuch Hesses, in der Heimat Marias, in Bern, Fuß zu fassen, scheiterte. Hesse entschloss sich, seine Familie zu verlassen und Deutschland hinter sich zu lassen.

1918 war es dann so weit. Hesse hatte seine Kinder bei Freunden untergebracht und brach in den Süden auf - ohne zu wissen, wohin ihn seine Wanderung führen würde. Wichtig war allein, von „zu Hause“ weg zu kommen. Gott würde ihn schon richtig leiten. Zu diesem Vertrauen hatte er immerhin wieder zurückgefunden, nachdem er lange gelitten und den Scherbenhaufen seiner Existenz in langjähriger Therapie zusammengefegt hatte.

Mit der Suche nach einer neuen Heimat und der Sehnsucht nach einem neuen Zuhause haben wir ein erstes Stichwort für unsere Textbetrachtung gefunden. Hesse wurde in all diesen Jahren von Widersprüchen gequält. 1904 nach Gaienhofen am Bodensee gekommen, um sich niederzulassen, hatte er gehofft, seine Existenz stabilisieren zu können. Er spielte den Bauern, Gärtner und Familienvater - und sann doch gleichzeitig darüber nach, wie er ausbrechen könnte. Seine Reisen nach Italien und schließlich nach Indien dokumentieren den ständigen Widerspruch seines Lebens in Gaienhofen. Man kann wirklich sagen, dass Hesse innerlich zerrissen war zwischen seinem Wunsch nach Seßhaftigkeit und seinem Wandertrieb. Wenn er dann unterwegs war, gedachte er mit Wonne seiner lieben Familie in Gaienhofen und schickte ihr anrührende Postkarten und Gedichte. War er „zuhause“, schimpfte er über die kleinbürgerliche Enge.

Doch nun im Mai 1918 war er willens, ganze Sache zu machen. Der Aufbruch in den Süden war keine Reise mehr, sondern der starke Wille eines damals schon berühmten Dichters, neu anzufangen und dem Leben auf den Grund zu gehen. Hesse wollte nicht malen und nicht dichten und eigentlich auch nicht unbedingt berühmt sein. Er wollte wirklich leben, intensiv leben, und das ging nur, wenn er den Mut aufbrächte, das wirkliche Leben außerhalb des engen Kreises der Familie aufzusuchen.

Dieser Text ist deshalb in seinem Kern ein freimütiges Bekenntnis zu einem neuen Lebensideal. Nein, ein bürgerliches Zuhause wollte er nicht mehr. Er durchschaut seine Fantasie, die ihm, dem Vorbeiwanderer, etwas  von einem neuen roten Haus vorgaukelt. Es ist rührend, wie er beschreibt, was er wirklich braucht. Man darf vermuten, dass er sich darüber im klaren war, was er wirklich brauchte und was nicht. Es sind einfache Dinge, die ihm einfallen: die Stille ringsum, das Dorf in sicherer Distanz von seinem kleinen Haus entfernt, das „Stübchen“ nach Süden gerichtet, ein eigenes Bett - die Betonung liegt nach all den Ehejahren auf eigen - die kleine Madonna aus Italien im Bücherregal.

Doch wie gesagt, Hesse durchschaut seine Wanderfantasie auf die dahinter liegende Wirklichkeit des Die-Heimat-in-sich-Tragens. Es ist jetzt die mögliche Zukunft, die er fantasiert. Sein Lebensziel ist es, durch intensives Leben die Seele vollzusaugen mit den Bildern des Erlebten. Dann würde er vielleicht eines Tages zur Ruhe kommen.

 

Es entgeht uns nicht, dass er sein Lebensziel in Anlehnung an Novalis formuliert hat. Novalis hatte, das macht seine Bedeutung in der Geistesgeschichte aus, nach dem Jahrhundert der Säkularisierung der Religion als erster wieder auf die „innere Welt“ aufmerksam gemacht und Winke davon gegeben. Interessant auch, dass Hesse nicht von „der“ Heimat spricht. Nein, es geht ihm nicht um die Heimat schlechthin, das wäre zu viel verlangt, sondern um ein Stück Heimat, ein Stückle Heimat (auf Schwäbisch!).

 

Wir riskieren an dieser Stelle einen Blick nach vorne und schauen auf einen Text, den Hesse zwölf Jahre später, im Jahre 1931 geschrieben hat. Er hatte gerade sein eigenes Haus in Montagnola beziehen dürfen. Er schreibt:

„Irgendwo heimisch zu sein, ein Stückchen Land zu lieben und zu bebauen, nicht bloß zu betrachten und zu malen, teilzuhaben am bescheidenen Glück der Bauern und Hirten, am Vergilischen, in zweitausend Jahren unveränderten Rhythmus des ländlichen Kalenders, das schien mir ein schönes, zu beneidendes Los, obwohl ich selbst es einstmals gekostet und erfahren hatte, dass es nicht genüge, um mich glücklich zu machen.“ (Freude am Garten S.92 f.)

Hier schlägt er die Brücke zurück nach Gaienhofen und bekennt die Unzulänglichkeit seines Versuchs, im Leben auf dem Lande vor Anker zu gehen. In dem Text hingegen, von dem wir ausgegangen sind, entwirft er eine mehr verinnerlichte Zukunft. In der Suche nach der Heimat steckt die Suche nach der eigenen Mitte. Von dort aus „schwängen alle Kräfte“. Wo später in Montagnola die Arbeit im Garten als Entspannung und Meditation fungiert, steht hier noch die negativ wirkende Klage über die nicht vorhandene Mitte.

Allerdings gibt es da eine Überraschung. Mit dem Satz: „Aber es ist nicht meine Sache, mich anders zu machen“ drückt Hesse positiv die neue Wendung in seiner Suche nach dem eigentlichen Leben aus. Er hat neues Vertrauen in das Leben gefasst. Und er erkennt: „Meine Sache ist, unzufrieden zu sein und Unrast zu leiden.“ Im Satz vorher hat er denselben Gedanken positiv ausgedrückt: „Meine Sache ist, zwischen vielen gespannten Gegensätzen zu schweben und bereit zu sein, wenn das Wunder mich ereilt.“

„Meine Sache“: Es wird dem von Norden nach Süden wandernden Autor Hesse klar, was seine Sache eigentlich sei. Weder das eine, noch das andere. Weder das Vagabundieren mit der brennenden Sehnsucht nach einem Zuhause im Bauch, noch als Bürger mit der fliegenden Sehnsucht nach einem Leben als Vagabund im Herzen. Seine Sache sei es vielmehr, „zwischen vielen gespannten Gegensätzen zu schweben“.

Das heißt ja wohl, dass Hesse erkennt, dass er zwischen Pol und Gegenpol genügend hin-und hergezuckt sei. Genügend hat er die Extreme durchkostet und erlitten. Nun ist er dabei, seine eigene geistige Lebensmitte zu entdecken. Er ahnt die Einheit der Gegensätze und drückt diese Ahnung im Bild des Schwebens über den Gegensätzen aus.Er liefert dem Leser auch das Stichwort für die weitere Suche: das „Nirvana“. Es weist nach vorne auf die Darstellung des Erwachens der Seele im „Siddhartha“.-

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