Der dritte Brief

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Liebe Freundin, lieber Freund der Dichtung,

 

       die dritte Elegie  bedarf einer besonderen Einführung. Sie ist schwer verständlich und schwer verdaulich. Ich wähle den Einstieg über die Biografie, weil ich damit am ehesten zeigen kann, aus welchem Hintergrund heraus der Dichter spricht.

 

Während seines Aufenthaltes auf Schloss Duino im Jahre 1912, als er die ersten Elegien schrieb, wandte sich Rilke an seine Jugendfreundin Lou Andreas Salomé mit der Bitte, ihn möglicherweise an einen Therapeuten zu vermitteln. Rilke hatte sich diesen Schritt lange überlegt. Die Schreibblockade, unter der er litt, ließ ihm keinen anderen Ausweg. Er musste sich Hilfe holen – und was lag näher, als sich an die Jugendfreundin zu wenden, von der er wusste, dass sie in der Zwischenzeit zu einer glühenden Anhängerin der Lehren Sigmund Freuds geworden war? (siehe Ralf Freedmann, Bd. II S.126ff.) Nicht dass er sich festlegen wollte, es ging ihm nur um die Auslotung der Möglichkeit einer Therapie.

Die Unterstützung von Lou ließ nicht lange auf sich warten. Sie wolle ihn zu ihrem eigenen Supervisor mitnehmen. Dem sei er durch ihre Erzählungen schon bekannt. An diesem Punkt setzte Rilkes Widerstand ein. Nach einem längeren Hin- und Her entschied er sich, dass das Schreiben selbst seine Therapie sein würde. Er befürchtete die negativen Folgen einer Behandlung für seine Schaffenskraft. Freuds Schriften kämen ihm „stellenweise haarsträubend“ vor, schrieb er der Freundin. Er scheue dieses „Aufgeräumtwerden“, bei dem etwas wie eine desinfizierte Seele herauskommen könne, „rot korrigiert, wie die Seiten in einem Schulheft“. (Zitiert bei Freedmann II S.128)

 

Wie diese Begebenheit zeigt, wünschte sich Rilke und hatte gleichzeitig Angst davor, dass sich ihm die Tiefe seines Unterbewusstseins auftun solle. Er wünschte es sich, weil ihm schon längst klar war, dass die Dichtung aus dem Urgrund des Seins fließt. Er hatte Angst davor, weil er wusste, dass diese Tiefe immer auch ein Abgrund wäre, in dem der Mensch sich verlieren könne. Das Für und Wider, das „Faszinosum et Tremendum“, hielten sich die Waage.

 

Die dritte Elegie lotet die Abgründe der Liebe schichtweise aus. Die erste Ebene ist die der Liebe zum „Mädchen“. Die Liebe zum Mädchen meint aber nicht nur diese als Person, sondern immer auch die Liebe zur Mutter und Frau. Die beschützende, aber auch  „klein“ machende Liebe der Mutter spielt sich auf einer zweiten Ebene ab. Tiefer noch als die Liebe zur Mutter (und zum Vater) und zur Geliebten spielt das Wallen des „Blutes“ in den Adern der Liebenden. „Blut“ ist eine Metapher für die in der Leidenschaft frei gesetzten Triebkräfte. Rilke hat sie in der Figur des Flussgottes Neptun personifiziert.

 

Die dritte Elegie entfaltet also die Ganzheit der Liebe, d.h. unter Einschluss ihrer Schattenseite, in diesen drei Schichten. Es entsteht dabei ein Spannungsgeflecht zwischen den beiden Polen auf der einen Seite des „Dionysischen“ des Blutes und auf der anderen Seite des „apollinischen“ der sternenhaften Herkunft. (Die Begriffe apollinisch und dionysisch stammen von Nietzsche.). Wir dürfen gespannt sein, zu welchem „Ergebnis“ Rilke auf seiner Reise durch die finsteren Urwelten des „älteren Bluts“ gelangen wird.

 

Mit dem ersten Vers der ersten Strophe grenzt sich der Sänger vom Lob der Liebe, wie ihn die „alten“ Dichter wie z.B. Petrarca gespendet haben, ab und weist auf eine andere, moderne Aufgabe hin, nämlich die, das „verborgene und schuldige“ Wirken des Gottes Neptun in der Tiefe der „Unterwelt“ und des „Unbewussten“ aufzudecken. Diese erste Strophe deutet das Wirken der dämonischen Kräfte an. Erst in der dritten Strophe gelangen sie zur Entfaltung.

Interessant ist es, dem Dichter zuzuschauen, wie er die Figur des Neptuns mit seinen Attributen Dreizack und Muschelhorn nimmt – wir kennen sie aus den Darstellungen der Malerei und Bilhauerei – und sie in neuartige Bedeutungszusammenhänge einfügt. Er setzt die alte Mythe in Verbindung mit dem „Blut“ und erzeugt dadurch neue Bedeutungszusammenhänge. Wie schon gesagt, deutet das Blut auf die Leidenschaft hin. Von ihr haben die Liebenden zu Beginn ihrer Geschichte noch keine Vorstellung. Der Strom des „Blutes“ beginnt erst mit der Erfahrung der Sexualität zu fließen. Deshalb, so vermute ich, lebt der „Fluss-Gott Neptun“ im „Verborgenen“ und „Schuldigen“. Er taucht aus dem Fluss erst auf, wenn die sexuellen Triebkräfte ins Spiel kommen. Dann allerdings ist sein Auftritt gewaltig. Der Dichter gestaltet diesen Auftritt im Bild des Gottes, der sein Haupt aus dem Fluss emporhebt, „aufrufend die Nacht zu unendlichem Aufruhr“.  Es bedarf der gesammelten Besonnenheit der Liebenden, um die Erinnerung an die sternenhafte Herkunft der Liebe dagegen zu halten.

 

Die zweite und die dritte Strophe bilden eine Einheit. Sie entfalten das eine Thema der Entwicklung der Libido vom Knaben zum Jüngling. Ich folge in meiner Darstellung dem Fortgang der Beschreibung im Text der Elegie.

Zunächst stellt der Sänger klar, dass nicht das Mädchen und auch nicht die Mutter an den Wirrnissen des Liebenden „Schuld“ seien. Das Thema, um welches es hier geht, übersteige sie bei weitem. Mit den „älteren Schrecken“ ist nach der bildlichen Darstellung des Flussgottes Neptun in der ersten Strophe ein wichtiger Hinweis gegeben. Ich habe ihn in der „Vorbereitung“ erläutert. Der Sänger wendet sich noch immer an das Mädchen und fordert sie auf: „Ruf ihn“. Die Aufforderung bezieht sich auf den Jüngling. Das Mädchen soll und kann ihn herbei holen, der sich mitten in der Krise der Loslösung von der Mutter befindet.

Im nächsten Vers stellt der Sänger, nun schon auf die tiefere Ebene der Beziehung zur Mutter zielend (der Vater wird Thema in der vierten Elegie), diese Loslösung infrage. „Aber begann er sich je?“ Diese Frage berührt das sehr komplexe Thema der Eigenverantwortung in der Beziehung zur Geliebten. Es ist ja ein Geben und Nehmen zwischen einem „Ich“ und einem „Du“. Der Geliebte wächst daran, dass er ihr „heimliches Herz“ „nimmt“ „und sich beginnt“. Die Grenzen zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ werden fließend. Ohne „sie“ kann es kein „er“ geben und umgekehrt. Die Liebenden erschaffen sich selbst mit ihrer Liebe.

 

Die nun folgende Beschreibung der Beziehung erst des Knaben und dann des Jünglings zur Mutter ist sicher eine der schönsten Stellen aus den DEL. Man sieht die Mutter in ihrem freundlichen Umwirken des Knaben, den sie wie ihren Augapfel behütet. Und doch gibt es hier immer wieder Augenblicke, wo selbst die Mutter nicht verhindern kann, dass das Bewusstsein ihres Kindes sich erweitert und in die Geheimnisse des Lebens einzudringen sucht. Der Dichter bereitet den Einbruch des Unbewussten mit Formulierungen vor, die eine Vorahnung erwecken: die Mutter „wehrte der fremden“ Welt; mit ihrer „schlanken Gestalt“ „vertrat“, d.h. stelle sich vor das „wallende Chaos“; sie wusste alles zu erklären und das beginnende Erschrecken des Kindes über das Knarren von Dielen und das Wehen von Vorhängen mit einem Lächeln abzutun. Doch es kommt der Tag, an dem der Knabe sich nicht mehr beruhigen und abspeisen lässt. Der Wille zum eigenständigen Erkunden der Geheimnisse wird in der Formulierung angedeutet: „Er horchte und linderte sich“. Und wenig später, in der dritten Strophe wird dann ausgeführt, dass der Knabe im Traum und im Fieber der Krankheit sich auf das Unbewusste einließ, einlassen musste, weil es der Gang der Dinge ist. Wir erleben mit ihm, wie sich seine Ahnungen des Geheimnisvollen zu Angstzuständen steigern. Es ist von „würgendem Wachstum“ und den „tierhaft jagenden Formen“ die Rede und gipfelt in den Bildern des „Urwalds“ als Gleichnis für den Einbruch des Unbewussten in das Leben des Jünglings. Der Dichter schildert erste Erfahrungen des Jünglings mit den Triebkräften der Leidenschaft in der Liebe. Es ist dies der Augenblick, in dem der Flussgott Neptun sein furchtbares Haupt erhebt (erste Strophe).

 

 Wir werden damit auf die dritte Ebene hingeführt, die Ebene des Vorgeburtlichen, die noch vor der Zeugung wirkt. Von entscheidender Bedeutung scheint mir, dass über dem „Urwald“, d.h. über dem Chaos des Unbewußten, ein „lichtgrüne Herz“ steht. Der Sänger deutet damit an, dass der Prozess der Entfaltung der Libido durch die Liebe zur Mutter und zur Geliebten auf ein Zentrum zielt: Auf die Herausbildung der Wachstumskräfte der Natur.  Der nächste Vers nimmt diesen Gedanken wieder auf. „Liebend stieg er hinab in das ältere Blut“. Liebte“ wird drei Mal genannt bzw. beschworen. Und die Liebe zeigt Wirkung:

 

„Und jedes/ Schreckliche kannte ihn. Blinzelte, war wie verständigt./ Ja, das Entsetztliche lächelte.“

 

Damit wird die Kraft der Dämonen - sie regieren durch die Furcht, die sie dem Herzen des Menschen einflößen - gebrochen.

 

Wie sollte/ er es (sc.das Schrechliche) nicht lieben, da es ihm lächelte.“

 

Sogar mehr noch als die Mutter, hat ihm das „Schreckliche“ zugelächelt. Der Knabe hat es „vor dir (Mutter)“ geliebt. Und wieder spielt der Sänger auf die vorgeburtliche Prägung an.

 

Der hier angedeutete Vorgang, dass es gelinge, die Schrecken der Tiefe zu bannen, erinnert mich an den Helden Siegfried, der sich dem furchtbaren Drachen stellte und ihn besiegte. Dann aber kommt Narziss ins Spiel. Er beugt sich nicht über das Wasser, sondern das „Blut“ bzw. seine Leidenschaften und erkennt sich selbst. Die Fratze des Bösen ist nur eine Falte im eigenen Gesicht, so verarbeitet er seine Erfahrung und wir mit ihm. Durch Siegfried und Narziss, Odysseus und Orpheus zusammen genommen, verlieren die Schecken der Tiefe ihre dämonische Gewalt über die Seele des Menschen.

 

Mit der vierten Strophe entlässt uns der Sänger aus der Tiefe des Eintauchens in die Kräfte des Unbewussten. Zumindest der erste Vers sucht die harmlose Note in der Hinwendung zum Mädchen. Allerdings erfolgt im dritten Vers wieder der Tiefgang. Dieses Mal handelt es sich allerdings mehr um eine Zusammenfassung des zuvor Ausgeführten. „Uns steigt, wo wir lieben,/ unvordenklicher Saft in die Arme.“ Es folgen vier Bilder, in denen diese Einsicht konkretisiert wird: das „zahllos Brauende“; die Väter, die als „Trümmer Gebirgs uns im Grunde beruhn“; das „trockene Flussbett einstiger Mütter“; und dahinter noch liegend „die ganze lautlose Landschaft unter dem wolkigen oder reinen Verhängnis.“

 

Mit einer weiteren Anrede an das Mädchen beschließt der Sänger diese Elegie. Er schließt jetzt die Gefahren der „Vorzeit“ und „Herkunft“ mit ein. Sie bedrohen nicht nur den Geliebten, sondern auch die Geliebte. Die Toten scheinen anwesend zu sein und mitzuwirken. Es ergeht an die Geliebte die Bitte, im Wissen um die Gewalten des Blutes Behutsamkeit walten zu lassen, mit der Hingabe nicht zu geizen und dem Geliebten Trost zu spenden.

 

Wir kommen zum Schluss. Am Anfang stand die Frage, wie Rilke die Spannung zwischen den beiden Polen des Dionysischen und des Apollinischen lösen würde. Beide Kräfte wirken im Herz des Menschen auf den unterschiedlichen Ebenen des individuellen und des kollektiven Unbewußten. Wer sein Herz öffnet, bekommt es zunächst mit den dunklen, später, wenn er seine Angst als Projektionen durchschaut, mit den sonnenhaften Kräften zu tun. In der Liebe wird der Mensch ganz. Aus dem „furchtbaren“ Schrecken wird ein „fruchtbares“ Erwachen.

 

Es wäre lohnend, Rilkes Begriff der Liebe, wie er ihn in den „Elegien“ insgesamt entfaltet hat, genauer zu untersuchen. In dieser dritten Elegie jedenfalls ist er der Gegenbegriff zur Angst und Furcht. Durch die Liebe, siehe das „grüne Herz“, das über dem Dschungel des Unbewussten schwebt, wird der Mensch ganz Mensch. Durch die Liebe wird das Dämonische humanisiert. Das „Lächeln“ ist ja der Inbegriff des Menschlichen. Wir werden ihm an späterer Stelle, in der fünften und zehnten Elegie, wieder begegnen.

© 2011 Johannes Heiner