1,1 „Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!“

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Was bleibt nach dem Lesen? Sind es einzelne Formulierungen wie „Übersteigung“, „Verschweigung“, „Tiere aus Stille“, „Tempel im Gehör“? Sind es die übergreifenden Sätze, die sich nicht an die Versenden halten? Das unmittelbare Hineinstellen in den Gesang des Orpheus? Wie der Dichter Rilke uns gestatten, mitzuerleben, wie Orpheus die Bäume und Tiere verwandelt?

Es lohnt sich, die Resonanzen im eigenen Innern aufzuspüren. Dass es so etwas Schönes gibt! sagt eine Leserin. Ich fühle mich gehoben, sagt eine Zweite. In meinem Lebensgefühl gehoben, führt sie aus, als sie gefragt wird.

Der Literaturwissenschaftler wird „zwei Dinge“ vorausschicken wollen. Schauen wir ihm gelassen zu und lassen ihn gewähren:

Das Erste ist die Form des Sonetts, führt es aus. Der „Aufgesang“ besteht aus den beiden Quartetten, der „Abgesang“ aus den beiden Terzetten. Die Reime unterscheiden sich von Strophe zu Strophe. Die strenge Form des Sonetts würde verlangen, dass das Reimschema beibehalten bliebe. Natürlich muss man noch wissen, dass „Sonett“ von italienisch „sonare“, klingen, ertönen, kommt.

Das Zweite ist, führt er weiterhin aus, die Sage von Orpheus, auf die sich der Dichter Rilke im Titel bezieht. Die Hochzeit mit Eurydike, der Schlangenbiss, der zum Tod der Geliebten führt, die Klagen des Orpheus, sein Abstieg in den Hades usw. Wer die Sage kennt, zumindest in groben Zügen, wird die Anspielungen besser verstehen.

Man könnte noch als Drittes die Verehrung Rilkes für die junge Tänzerin Wera anfügen, die vor kurzem gestorben ist und auf deren Grabmal Rilke diese seine Dichtung gestellt hat.

Doch dieses Wissen bildet keine notwendige Voraussetzung für den Prozess des Verstehens, der jetzt einsetzt. Das Sonett stellt seine LeserInnen und Leser unmittelbar in den Gesang des Orpheus hinein und ermöglicht das Erleben des Gesangs. Man stelle sich Orpheus vor, wie er, angelehnt an einen Baum, die Zither spielt und traurig sehnsuchtsvolle Lieder singt. Eurydike ist mir entschwunden! Ohne sie kann ich nicht leben! O ihr Götter, schaut auf mein Unglück und helft mir, es zu überwinden! So oder ähnlich hören wir den Orpheus nach dem Verlust seiner geliebten Frau klagen.

Das erste Sonett aus dem ersten Teil ein Klagegesang also. Aber ein besonderer Gesang, der den Sänger im Singen verwandelt und in die Natur Ruhe und Stille einkehren lässt. Der Dichter Rilke nähert den poetischen Ausdruck der Musik an. Man werfe einen Blick auf die erste Strophe: die Wiederholung des O-Vokals entspricht den klagenden Worten des griechischen Sängers.

 

© Johannes Heiner, November 2012

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