1,6 „Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden“

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Die Frage ist nahe liegend, ob Orpheus eine Sage sei oder eine wahrnehmbare Existenz. Geht es doch immer ums Dasein. „Gesang ist Dasein“, hörten wir im 3. Sonett. Doch es ist, folgen wir dem Dichter Rilke, ein Dasein der besonderen Art. Dieses Dasein ist nach allen Enden offen, zur Geburt wie zum Tod, für die Kräfte des Himmels wie der Erde, für das Licht und die Finsternis. Es wäre dies der orphische Modus einer offnen Existenz.

Was Wort „offen“ wurde von mir mit Bedacht gewählt. Wie von mir in „Wege zum Dasein“ dargelegt, versteht man die Poesie Rilkes am besten, wenn man sie als einen Weg in die Offenheit des Seins versteht. Mit seinem Denken und Fühlen baut der unbewusste Mensch Mauern aus Urteilen um sich auf und verbaut sich damit die nächste Metamorphose, die bereits auf ihn wartet. Ich verstehe Rilkes Leben und seine Dichtung als ein Ringen um größtmögliche Offenheit. Die Figur des Übersteigens wie auch des Überstiegenwerdens scheint mir eine zentrale Metapher für das Spätwerk zu sein.

Ich muss gestehen, dass ich mir die Seinsweise der Offenheit, die Rilke verkündet, zueigen machen suche. „Das geht nicht an einem Tag. Man muss dabei aushalten (und sich konfrontieren). Dann wird es zuletzt leicht und lustvoll.“ Diese Worte stammen von Johannes Tauler. Sie helfen mir seit vielen Jahren, mich in die Meditation / Kontemplation zu begeben.

 

© Johannes Heiner, November 2012

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