Gedanken zum Gedicht: "Mariae Heimsuchung"

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Am Anfang steht eine Kamerafahrt über das jüdische Land mit seinen Bergen und Tälern, auf die schwangere Frau zu. Man sieht sie groß im Bild, wie sie aufwärts steigt. Sie ist schwanger und es bereitet ihr sichtlich Mühe, sich zu bewegen.

Auf irgendeinem dieser Hügel befindet sich der Hof, wo die Tante Elisabeth wohnt. Nicht die Berge in ihrer kargen Schönheit sind wichtig, und auch nicht der dicke Bauch, der Beschwerlichkeiten verursacht. Noch nicht einmal der Name "Maria" wird genannt. Sondern wichtig ist etwas Anderes, das sich im Innern der Frau befindet. Nicht der dicke Bau ist gemeint, sondern das damit verbundene Lebensgefühl von Fülle. Der Dichter sagt es im Bild: die Fülle der Schwangeren ist wie ausgebreitet über das jüdische Land.

Es tut gut, die Fülle der Schwangeren nachzuempfinden und dadurch Anteil an ihrem Schicksal zu nehmen:

Aber nicht das Land,
ihre Fülle war um sie gebreitet;
gehend fühlte sie: man überschreitet
nie die Größe, die sie jetzt empfand.
 

Aber Maria ist nicht alleine mit sich. Elisabeth hat sie bereits empfangen. Maria bleibt noch eine Weile in das Gefühl der seelischen Fülle vertieft, das ihr die Schwangerschaft bereitet. Aus diesem inneren Gefühl löst sich der Impuls, Elisabeth zu berühren. Die Fülle drängt nach außen. Die Geste geht nicht irgendwohin, sondern sie geht direkt zum Bauch der Anderen. Erst dann folgt die Berührung der Gewänder und der Haare. Sie ist ein Ausdruck der Bewunderung, wie schön die Andere ist. In dieser Bewunderung, die beantwortet und geteilt wird, nähern sich die beiden Frauen einander an, ganz ohne Worte, in tiefem Einverständnis.

Und es drängte sie, die Hand zu legen
auf den andern Leib, der weiter war.
Und die Frauen schwankten sich entgegen
und berührten sich Gewand und Haar.
 

Die von Maria gesprochenen Worte, das Magnifikat, sind in der Bibel nachzulesen. Das Magnifikat gehört zu den schönsten Stellen der Bibel. Dem Dichter, der diese Begegnung zwischen Maria und Elisabeth beschrieben hat, sind die Gesten wichtiger als die Worte, die gesprochen werden. Er wusste, dass die tiefen Regungen der Seele sich der sprachlichen Mitteilung entziehen. Es war ihm wichtig, die Stille hinter den Worten auszudrücken. Das Schweigen wird manchmal tiefer empfunden. als die dürren Worte, die man dafür findet, es tun könnten.1

An dieser Stelle könnte das Gedicht zu Ende sein. Ist es aber nicht. Wie geht es weiter? Man darf gespannt sein!

Der Dichter setzt mit der letzten Strophe den passenden Begriff auf das Geschehen drauf:

Jede, voll von ihrem Heiligtume,
schützte sich mit der Gevatterin.
 

Der Begriff ist "das Heiligtum"; mit "Fülle" wurde ihm bereits vorgearbeitet, mit "Heiland" schwingt er nach. Die beiden Frauen halten ihre Bäuche fest und sie halten sich untereinander fest. Sie haben keinen anderen Schutz als den, den sie sich zu geben in der Lage sind. Die zu Gebärenden, der Heiland, und Johannes der Täufer, sind noch weit weg und sie sind verletzbar. 

Ach der Heiland in ihr war noch Blume 

Die Blumen sind für Rilke ein Symbol für das echte Leben, das immer einfach ist, wenn es mit dem Herzen gelebt wird. Maria und Elisabeth, die Schwangeren, begegnen sich in ihren Herzen und beschenken sich mit ihrer Lebensfreude. Das ist die Botschaft eines der schönsten Gedichte von Rilke. 

Johannes Heiner im Dezember 2008

1 Zum Thema Rilke und die Stille, siehe unter "Rilke-Studien"; der Aufsatz ist soeben im "Publik-Forum Extra Stille. Der Klang der Ewigkeit" erschienen.