Das Projekt „Jüdische Lyrik“

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Die moderne europäische Lyrik entstand um 1870 in Frankreich und ist mit den Namen von Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und Arthur Rimbaud verbunden. Es folgte das Spanien der zwanziger Jahre mit Namen wie García Lorca, Rafael Alberti und Jorge Guillén. In Deutschland wurde die moderne Lyrik erst nach 1945 bekannt. Sie entstand während des Zweiten Weltkriegs in Stockholm (Nelly Sachs), Bukarest (Rose Ausländer und Paul Celan) und Santo Domingo (Hilde Domin). Else Lasker-Schüler gilt als Pionierin im Berlin der Vorkriegszeit um 1910. Ich stütze mich bei diesen Angaben auf Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Ich habe bei ihm in Freiburg Anfang der sechziger Jahre studiert.

Die fünf Namen gehören zu Menschen jüdischer Herkunft. Die Herkunft aus dem jüdischen Glauben und ihr Schicksal als Verfolgte der Nazis verbindet sie. Sie kannten sich und waren miteinander befreundet. Paul Celan war mit Nelly Sachs bekannt. Er hat Rose Ausländer geholfen, sich vom herkömmlichen Schreibstil zu befreien. Hilde Domin hat mit Nelly Sachs korrespondiert. Else Lasker Schüler ist nach Jerusalem emigriert und starb dort im Jahr 1945. Diese Namen bilden ein Gestirn mit fünf Sternen am Himmel der modernen Lyrik.


„Wir setzen den Fuß in die Luft und sie trug.“ Mit diesen Worten über ihrem Grab in Heidelberg drückt Hilde Domin ihre Erfahrungen im Exil aus. Es blieb diesen Menschen nichts anderes übrig, als von der Luft zu leben und der ungewissen Zukunft zu vertrauen. Das Erstaunliche dabei ist, dass sie sich zu einer überraschenden Positivität in ihren Einstellungen durchgerungen haben. Die Klagen über die Verfolger sind selten. Man blickte in die Zukunft und hoffte auf Besserung der Lage. Die Luft trug. Damit gelangte die Fantasie zu neuer Macht und die dichterische Schaffenskraft erfuhr ungeahnte Höhenflüge. Berühmt geworden ist der Text Nur eine Rose als Stütze von Hilde Domin. Ich habe ihm im Lyrikgedächnisweg Hilde Domin eine eigene Darstellung gewidmet.

Wir können das Unrecht, das an diesen Menschen jüdischer Herkunft verübt wurde, nicht wieder gut machen. Aber wir können die Erinnerung an sie pflegen. Die von mir konzipierten Lyrikgedächtniswege dienen diesem Ziel. Sie sparen die Lebensläufe nicht aus, stellen eine Auswahl aus dem lyrisches Werk vor und versuchen sich an einer Deutung der oft hermetisch verschlossenen Texte. Mögen sie zur Quelle der Inspiration für die vielen jungen Menschen werden, die sich heute am Schreiben von Lyrik versuchen!

 

Rose Ausländer wurde mir vor zwanzig Jahren eher zufällig zum leuchtenden Vorbild. Ich besuchte eine Ausstellung mit ihrer Lyrik und mit Fotos von ihr in Frankfurt. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ja, sagte ich mir damals, das ist ein Weg, den man bis ins hohe Alter gehen kann, schreiben, schreiben, schreiben und wachen Auges dem Alter und dem Tod begegnen. Als ich dann wenige Jahre später von meiner Arbeit als Lehrer freigesetzt wurde, bin ich auf sie mit großem inneren Gewinn zurückgekommen. Sie hat meine Anfänge als Lyriker beflügelt.


Ich schließe meine eigene Lyrik in Form des Lyrikwegs Poxdorf an die Lyrikgedächniswege an. Im Herbst 2015 wird es diesen Weg in der Umgebung von Poxdorf zu besichtigen geben. Er ist fester Bestandteil des 700 Jahre Jubiläums von Poxdorf und des ersten Kulturtages am 21. September 2015.

Ausgeführt wurden die Lyrikgedächtniswege Hilde Domin und Nelly Sachs in den Jahren 2014 und 2015. Der Lyrikgedächnisweg Rose Ausländer soll folgen.


© 2015 Dr. Johannes Heiner