Erläuterungen zur "Neunten Elegie"

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Dr. Johannes Heiner, März 2004

 

Beachten Sie auch die Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."

 

"die Frist des Daseins / also hinzubringen" - Das Leben des Menschen ist zeitlich begrenzt ("befristet"). In den Elegien 1-4 findet sich der Vergänglichkeitsgedanke häufig ausgedrückt. "als Lorbeer" - Rilke setzt das neue Motiv ohne Übergang an "des Daseins Frist". Verständlich wird der Zusammenhang erst, wenn man weiß, dass Rilke ein Lorbeer-Erlebnis hatte, das er hier eingebaut hat. "Der Lorbeer etwa, dessen Erscheinung den Dichter einmal betroffen hat, als er im Süden durch das Gebüsch am Berghang wanderte: das edle Gewächs mit den festen, klar geformen Zweigen, den genau sitzenden Beeren, den kostbar geformten Blättern und ihrem welligen Rand, so daß ihm das schwer nachzuvollziehende, aber doch so einfühlsame Bild einfiel, dieser Blattrand sei "wie eines Windes Lächeln". Zitat von Romano Guardini in: KRG, S.296 
"ein wenig dunkler" - Das Leben des Menschen ist dem Lorbeerblatt vergleichbar. Es ist "ein wenig dunkler" als das andere Leben der Pflanzen und Tiere auf der Erde. Das Leben der Pflanzen und Tiere würde ja schon ausreichen, um dem Leben auf der Erde Sinn zu geben. 
"warum dann Menschliches müssen" - Der Sänger der Elegie fragt nach dem Spezifischen des Lebenssinnes menschlicher Existenz. 
"Schicksal vermeidend, / sich sehnen nach Schicksal" - Nur die Helden und die Heiligen haben Rilke zufolge ein Schicksal. Das Leben des "normalen Menschen" vergeht wie ein Blatt im Wind. Helden und Heilige haben nicht gezögert, dem Ruf des Lebens an sie Folge zu leisten, auch wenn sie dafür ihr Leben lassen mussten. 
"in den andern Bezug" - in den Tod.
"den gelben und blaun / Enzian" - eine im Gebirge seltene Blume. Sie steht unter Naturschutz.
"wie selbst die Dinge niemals / innig meinten zu sein" - die Aufgabe der Poesie ist nach Rilke, die Essenz der Dinge in Erfahrung zu bringen und sie in der Sprache auszudrücken. 
"die heimliche List / dieser verschwiegenen Erde" - Das Leben hat die Liebe zum Ziel. In der Liebe können die Dinge jene Innigkeit und Verzückung erlangen, die sie eigentlich besitzen. Der "verschwiegene Sinn" des Erdenlebens besteht in der Erweckung der Liebe. 
"Schwelle, was ists für zwei Liebende" - Die Liebenden helfen sich wechselseitig über Konflikte hinweg; die Liebe macht ihnen das Leben leichter. 
"die eigne ältere Schwelle der Tür" - Die "Schwelle" zur Tür, hinter der die Liebenden wohnen, wird im Verkehr der Liebenden miteinander ein wenig abgenutzt, aber das macht nichts, angesichts des Gewinns, der aus der Liebe entsteht. 
"ein Tun ohne Bild" - ein hektisches Handeln, das keine Zeit für das Reifenlassen kennt. Demgegenüber das "Tun unter Krusten", ein Handeln im Verborgenen. 
"Zwischen den Hämmer besteht / unser Herz" - es wächst an den Schicksalsschlägen.
"die preisende bleibt" - Der Dichter sucht die "Rühmung" des Daseins, nicht die Klage.
"Preise dem Engel die Welt" - Der Dichter spricht zu sich selbst. Die Aufgabe der Dichtung ist es, die positive Seite des Lebens auszudrücken. 
"wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt" - Leid und Klage können sich, wenn der Mensch sich ihnen hingibt, in Freude verwandeln. 
"und jenseits / selig der Geige entgeht." - "Die Geige" steht als Pars pro toto für die Musik. Das verwandelte Leid geht aus der Verwandlung als Musik hervor. 
"Wollen, wir sollen sie verwandeln in uns!" - Durch seine Hingabe an das Leben verwandelt der Mensch es in eine sinnstiftende Ganzheit. 
"Erde! unsichtbar!" - Mit dieser paradoxen Formulierung hebt Rilke die eigentliche Aufgabe des menschlichen Lebens hervor. Die Menschen sind "die Bienen des Unsichtbaren" - so die Formulierung in dem berühmten Brief an Hulewicz aus dem Jahre 1925, in dem Rilke die Elegien für seinen polnischen Übersetzer auslegt. Rilke geht davon aus, dass die wichtigen Dinge im Leben nicht mit den normalen Augen zu erfassen sind; erst die Versenkung ins Innere eröffnet einen "Raum", in dem sie sich zeigen, wie sie wahrhaft sind. Allgemeiner gesprochen, vermisst Rilke an der Gegenwart, dass sie "keine Tempel mehr kennt" (7. Elegie). Sie müssen von neuem erbaut werden. Aber dieses Mal müssen sie im Innern des Menschen errichtet werden. Dann werden sie unzerstörbar sein. "Namenlos bin ich zu dir entschlossen" - Der Dichter ist entschlossen, den Auftrag der Verwandlung auszuführen, koste es ihn auch sein Ego. Der Verlust des Namens steht für die Preisgabe der Ich-Identität. Der Dichter taucht in das Unbewusste ein, indem er sich ganz los lässt. Dann kann er eine geistige Wiedergeburt erfahren. 
"dein heiliger Einfall" - Der Tod gibt dem Leben erst jene Tiefe und Gelassenheit, die das Leben braucht, um sich voll entfalten zu können. "Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen" - Der Dichter schöpft aus der Dimension des unsichtbaren Lebens, wie sie in Kindheit und Zukunft zutage tritt, die Hoffnung auf ein menschenwürdiges "Hiersein".