Lyrikgedächtnisweg Hilde Domin

3. Tafel: salva nos mit Kommentar

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Dies ist unsere Freiheit

die richtigen Namen nennend

furchtlos

mit der kleinen Stimme

 

einander rufend

mit der kleinen Stimme

das Verschlingende beim Namen nennen

mit nichts als unserem Atem

 

salva nos ex ore leonis

den Rachen offen halten

in dem zu wohnen

nicht unsere Wahl ist.

 

Hilde Domin, Hier (1964)

Sämtliche Gedichte, S.118

 

Die Aufgabe des schreibenden Menschen besteht darin, sich an die Wahrheit zu halten, auch wenn die Wirklichkeit ihn in die Lüge drängt. „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ bilden verschiedene Instanzen. Die Wirklichkeit, wie Hilde Domin sie erfahren hat, erzeugte einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. Sie wurde ja zum Auswandern gezwungen und musste um ihr Leben rennen, erst nach Italien, dann nach England, in die USA und schließlich in das Land, „Dominikanische Republik“ genannt, wo der Diktator Trujillo herrschte. Sie wollte sich nicht an die Wirklichkeit anpassen. Sie hätte die Wahrheit verbiegen müssen. Die Bezeichnung „Republik“ für eine Diktatur ist so eine Verbiegung der Wirklichkeit und Wahrheit, die den Zwecken der Herrschenden schmeichelt und ihre wahren Ziele verschleiert.

Als Hilde Domin auf der Insel Santo Domingo im Exil lebte, wurde sie sich ihrer Ohnmacht bewusst, was die schlimmen Verhältnisse in Hitlers Deutschland betraf. Der Begriff „kleine Stimme“ drückt diesen Sachverhalt aus. Sie kam sich wie David im Kampf gegen Goliath vor. Doch sie hielt „dem Verschlingenden“ stand und schaffte es nach dem Krieg, ihre „kleine Stimme“ in eine große und mutige zu verwandeln. Sie hat damit unzähligen Menschen geholfen, sich an der Wahrheit aufzurichten.

 

>> weiter zur 4. Tafel

<< zurück zur 2. Tafel

 

   

4. Tafel: Nur eine Rose als Stütze mit Kommentar

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft

unter den Akrobaten und Vögeln:

mein Bett auf dem Trapez des Gefühls

wie ein Nest im Wind

auf der äußersten Spitze des Zweigs.


Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle

der sanftgescheitelten Schafe die

im Mondlicht

wie schimmernde Wolken

über die feste Erde ziehn.


Ich schließe die Augen und hülle mich ein

in das Vlies der verlässlichen Tiere.

Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren

und das Klicken des Riegels hören,

der die Stalltür am Abend schließt.


Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.

Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.

Meine Hand

greift nach einem Halt und findet

nur eine Rose als Stütze.

 

Sämtliche Gedichte S.48

 

Die Erfahrung der Vertreibung, Flucht und des Exils als einem Leben in der Fremde bewegen die Dichterin, sich „ein Zimmer in der Luft“ einzurichten. Dort oben ist genügend Platz, während hier unten auf der Erde kein richtiger Ort zu finden ist. Die Dichterin nimmt uns mit in den Vorgang der Einrichtung hinein. Die Strophen zwei bis vier schildern ihn. Der Leser erlebt den aus Verzweiflung und Not geborenen Vorgang aus nächster Nähe. Er kann nacherleben, was von der Dichterin fantasiert wurde. Die kompensierende Fantasietätigkeit wird zur Sinn stiftenden Tätigkeit.

Der Text besticht durch seine Bilder. „Trapez des Gefühls“ nimmt zusammen, was getrennt ist. Er verschmilzt das Äußere („Trapez“) mit dem Inneren („Gefühl“) zu einer neuen Seinsweise im Geist. Man kann annehmen, dass Hilde Domin dieses Verfahren der „Romantisierung der Wirklichkeit“ u.a. bei den Surrealisten spanischer Sprache kennen gelernt hat.

 

>> weiter zur 5. Tafel

<< zurück zur 3. Tafel

   

Seite 2 von 4