Lyrikgedächtnisweg Hilde Domin

5. Tafel: Ziehende Landschaft mit Kommentar

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Man muss weggehen können

und doch sein wie ein Baum:

als bliebe die Wurzel im Boden,

als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Man muss den Atem anhalten,

bis der Wind nachlässt

und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,

bis das Spiel von Licht und Schatten,

von Grün und Blau,

die alten Muster zeigt

und wir zuhause sind,

wo es auch sei,

und niedersitzen können und uns anlehnen,

als sei es das Grab

unserer Mutter.

 

Der Titel drückt einen Sachverhalt aus, den es im Vorrat der Sprachwendungen nicht gibt. Es gibt „blühende Landschaft“, aber nicht „ziehende Landschaft“. Die Dichterin hat also eine neue Sprachmünze gestanzt und eine Formel erfunden, die in Kürze ausdrückt, dass die Landschaft sich verändert, wenn die Menschen in andere Länder gehen.

Wir wissen aus den Medien, wie aktuell die Frage der Vertreigung, der Flucht und des Exils ist. Hilde Domin greift das Problem auf und verdichtet es. Gibt sie auch eine Antwort auf das Problem?

Mit anderen Worten: Der Text besitzt auch eine politische Relevanz. Er gewinnt diese Relevanz durch die Verallgemeinerung auf das Menschsein schlechthin. Die Probleme von damals und ihre Lösungen können klärend auf die Probleme und Lösungen von heute wirken.

Man muss weggehen können“ Viele der von den Nazis diskriminierten Menschen sind zwischen 1933 und 1938 zu spät geflohen und mussten dies mit ihrem Leben bezahlen. Manchmal sind die Umstände so geartet, dass man sogar die Heimat verlassen muss. Es ist nicht zu ändern. Aber die Haltung des Flüchtlings ist zu verändern. Er kann die Haltung eines „Baums“ annehmen und sich bewusst an einem neuen Ort und in neuen Menschen verwurzeln. Dann „zieht“ eben die Landschaft vorbei und der Mensch bleibt, der er ist.

Doch die Dichterin gibt noch einen weiteren, sehr viel genaueren Hinweis. Sie sagt. „Du musst den Atem anhalten, / bis der Wind nachlässt“. Mit „Wind“ sind die widrigen Ereignisse gemeint, die den Menschen zur Flucht in die Fremde veranlasst haben. Mit „den Atem anhalten“ kann gemeint sein: Geduld haben, offenen Auges der Fremde begegnen. Die Menschen in der Fremde sprechen zwar eine andere Sprache und sehen anders aus; aber sie sind nicht wirklich anders. Eines Tages zeigt sich, dass die Fremde dieselben Muster aufweist wie die Heimat. Dann entsteht die Chance, das Leben in der Fremde als „Zu Hause“ zu erleben.

Der Gegensatz von „Heimat“ und „Fremde“ ist jetzt, dank der inneren Haltung des Flüchtlings, der bei sich geblieben ist, aufgehoben. Er kann sich entspannt niedersetzen und sogar anlehnen und wird eines Tages das Gefühl haben, „als sei es das Grab/ unserer Mutter“.

Wichtig die Formulierung „unserer Mutter“. Damit ist eine Mutter gemeint, die allen Menschen gemeinsam ist. „Mutter“ ist der Inbegriff von „Heimat“. Wer die Mutter in der Fremde wieder gefunden hat, der hat das Leiden an der Fremde überwunden.

 

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6. Tafel: Fallschirm mit Kommentar

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Tränennasses Gedicht

der äußersten Einsamkeit

du Netz über dem Abgrund

weißer Fallschirm

der sich öffnet im Sturz


Ein Engel hätte Flügel

unter einem Engel

weicht der Boden nicht

Ein Engel erhält nie

verwirrende Botschaft

über sich selbst


Sämtliche Gedichte S. 263

 

Kommentar, gewidmet meinen Freund Dieter Mauch

Das Wort „Gedicht“ in der Zusammenstellung mit „tränennass“ versetzt in Erstaunen. Man wäre eher geneigt, „tränennass“ in Verbindung mit „Gesicht“ zu bringen. Genau dieses Stolpern über eine ungewohnte Verbindung ist beabsichtigt.

Ein „Gedicht“ kann auch aus Not geboren werden. Ein Mensch geht unter und schreit nach Hilfe. Der Schrei aus der Not wird vom Dichter zu einem Text geformt. Das Ausdrücken des Leidens kann zu einer Linderung der Not beitragen. Im Bild des Textes gesprochen: Ein „Fallschirm“ geht auf. Die Beigabe von „weiß“ zu „Fallschirm“ verstärkt die Visualität des Bildes.

Bedenkt man, dass diese Zusammenhänge in nur fünf Zeilen ausgesagt und kommunizierbar gemacht werden, muss man der Dichterin große Bewunderung zollen. Es handelt sich um innere Bilder, die Hoffnung wecken.

Die zweite Strophe führt die Vorstellung eines „Engels“ ein. Es handelt sich um einen „rettenden Engel“. Aber die Dichterin knüpft nur scheinbar an die geläufige Vorstellung eines Schutzengels an. Sie benutzt diese Vorstellung, um auszudrücken, dass der verzweifelte Mensch in einen Zustand der Verwirrung gerät. Entscheidend für die Bedeutung der Zeilen ist das „nie“. Der „rettende Engel“ erhält vom verzweifelten Menschen „nie“ eine „verwirrende Botschaft / über sich selbst“. Logisch! Engel stehen über den Menschen. Sie sind ganz und sie müssen nicht ums Überleben kämpfen. Mit diesem Kunstgriff gelingt es der Dichterin, den Adressaten in den Text einzubeziehen. Er ist es, der von der Verwirrung betroffen ist. Mit „Verwirrung“ vertieft die Dichterin die „Verzweiflung“ der ersten Strophe. Sie zeigt gleichzeitig, die schwierige Lage eines Not leidenden Menschen auf und führt ihm mit dem Hinweis auf den Engel die Möglichkeit einer Lösung vor Augen.

Der Text hat auch mit der Biografie Hilde Domins zu tun. Der Tod ihrer Mutter hat sie in eine schwierige Situation gestürzt. Mit dem Tod der Mutter verlor sie den Halt, den sie im Leben hatte. Es kann hier nur angedeutet werden, dass sie sich damals entschieden hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Aus der Klärung ihrer Lebensperspektive ist das Schreiben von eigenen Texten hervorgegangen.

 

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