Lyrikgedächtnisweg Hilde Domin

6. Tafel: Fallschirm mit Kommentar

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Tränennasses Gedicht

der äußersten Einsamkeit

du Netz über dem Abgrund

weißer Fallschirm

der sich öffnet im Sturz


Ein Engel hätte Flügel

unter einem Engel

weicht der Boden nicht

Ein Engel erhält nie

verwirrende Botschaft

über sich selbst


Sämtliche Gedichte S. 263

 

Kommentar, gewidmet meinen Freund Dieter Mauch

Das Wort „Gedicht“ in der Zusammenstellung mit „tränennass“ versetzt in Erstaunen. Man wäre eher geneigt, „tränennass“ in Verbindung mit „Gesicht“ zu bringen. Genau dieses Stolpern über eine ungewohnte Verbindung ist beabsichtigt.

Ein „Gedicht“ kann auch aus Not geboren werden. Ein Mensch geht unter und schreit nach Hilfe. Der Schrei aus der Not wird vom Dichter zu einem Text geformt. Das Ausdrücken des Leidens kann zu einer Linderung der Not beitragen. Im Bild des Textes gesprochen: Ein „Fallschirm“ geht auf. Die Beigabe von „weiß“ zu „Fallschirm“ verstärkt die Visualität des Bildes.

Bedenkt man, dass diese Zusammenhänge in nur fünf Zeilen ausgesagt und kommunizierbar gemacht werden, muss man der Dichterin große Bewunderung zollen. Es handelt sich um innere Bilder, die Hoffnung wecken.

Die zweite Strophe führt die Vorstellung eines „Engels“ ein. Es handelt sich um einen „rettenden Engel“. Aber die Dichterin knüpft nur scheinbar an die geläufige Vorstellung eines Schutzengels an. Sie benutzt diese Vorstellung, um auszudrücken, dass der verzweifelte Mensch in einen Zustand der Verwirrung gerät. Entscheidend für die Bedeutung der Zeilen ist das „nie“. Der „rettende Engel“ erhält vom verzweifelten Menschen „nie“ eine „verwirrende Botschaft / über sich selbst“. Logisch! Engel stehen über den Menschen. Sie sind ganz und sie müssen nicht ums Überleben kämpfen. Mit diesem Kunstgriff gelingt es der Dichterin, den Adressaten in den Text einzubeziehen. Er ist es, der von der Verwirrung betroffen ist. Mit „Verwirrung“ vertieft die Dichterin die „Verzweiflung“ der ersten Strophe. Sie zeigt gleichzeitig, die schwierige Lage eines Not leidenden Menschen auf und führt ihm mit dem Hinweis auf den Engel die Möglichkeit einer Lösung vor Augen.

Der Text hat auch mit der Biografie Hilde Domins zu tun. Der Tod ihrer Mutter hat sie in eine schwierige Situation gestürzt. Mit dem Tod der Mutter verlor sie den Halt, den sie im Leben hatte. Es kann hier nur angedeutet werden, dass sie sich damals entschieden hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Aus der Klärung ihrer Lebensperspektive ist das Schreiben von eigenen Texten hervorgegangen.

 

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