"Paris, Rilke und ich" - eine Erzählung

"Paris, Rainer Maria Rilke und ich" - Die vierte Aufnahme

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Ich habe es geschafft, sitze auf dem Montmartre zu Füßen des Sacré-Coeur mit dem wunderbaren Blick auf das alte Paris zu beiden Seiten des Seineufers. Es gehört schon eine Portion Verrücktheit dazu, durch ganz Paris zu fahren und die Stufen auf den Montmartre mit dem Computer um den Hals hochzusteigen, nur um das Experiment zu machen, wie es sich anfühlt, aus der Situation heraus zu schreiben, eingetaucht in die Stimmen der vielen Leute, das Gurren der Tauben, den Gestank nach Pisse und die Motorgeräusche der Drahtseilbahn, die die Eiligen zum Montmartre hoch befördert. Ja, man muss schon etwas Verrücktes mitbringen, wenn man möchte, dass sich etwas im Leben bewegt und man selbst sich mit dem Leben weiterentwickeln kann!
Die Menschenströme durch der Basilika sind gewaltig. Sie werden aber so gelenkt, dass sie die Andacht des Ortes nicht beeinträchtigen. Es war richtig schön, den Kirchenraum langsam abzuschreiten und alles aufzunehmen, was sich dem Blick darbot. Das Herz Jesu wurde von verzweifelten Menschen nach dem deutsch-französischen Krieg anno 1870 angerufen. Die Idee bestand schon seit dem 17. Jahrhundert, als Marguerite-Marie die Visionen des Herzens von Jesus eingegeben wurden. Aber erst die Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870, dem ersten deutsch-französischen Krieg, hat in Frankreich die Energien hervorgerufen, die nötig waren, das mächtige Bauwerk ganz aus weißem Stein entstehen zu lassen.
Ein historischer Ort also, die Sacré-Coeur-Kirche auf dem Montmartre. Man wird von den zwei Soldaten hoch zu Ross empfangen. Schwerter werden zu Pflugscharen: immer wieder wird dieser Gedanke aus der Bibel Wirklichkeit. Man denkt sich nicht so viel dabei, wenn man die Kuppeln über der Stadt sieht. Es sieht hübsch aus. Es steckt aber sehr viel mehr dahinter, viele Bemühungen um Frieden von Franzosen und Deutschen.
Vor vierzehn Jahren war ich schon einmal hier. Ich saß mit Referendarinnen für das Schulfach Französisch aus Rottweil auf der langen weißen Treppe, die zum Haupteingang der Basilika führt. Auch damals war die Stimmung wie auf einem Volksfest, ausgelassen und fröhlich. In den Jahren, die seitdem verflossen sind, habe ich mich Frankreich noch auf ganz andere Weise, als im schulischen Grammatikunterricht, angenähert. Der Weg zu Rilke hat mich mitten in das Herz von Paris geführt. Für Hans Keydel hatte das Sacré-Coeur noch keine Bedeutung. Sein Herz hing, wie gesagt, an den alten Büchern derBouquinisten und am Trödel der marchés aux puces. Aber für mich heute, der ich mich für den Frieden engagiere, hat das Bauwerk mit seinem wunderbaren Blick über Paris sehr wohl Bedeutung erlangt.
Es ist kühl und windig. Der Herbst liegt in der Luft. Wie heißt es bei Rilke: wer jetzt kein Heim hat, der wird keines mehr finden. Die Ernte des Sommers ist eingebracht. Es ist gut, wenn man viele Bilder gespeichert hat und damit die eigene Seele ernähren kann, wenn das Leben der Natur sich zurückzieht. Der Winter wird lange dauern und hart werden.
Eine kleine Ergänzung kann ich nicht unterlassen. « Abesses » (dt. Äbtissinnen) ist der Name einer Metrostation unweit des Montmartre - Hügels. Ein richtig netter Ort zum Verweilen. In der einen Ecke befindet sich ein Café, gegenüber hat sich ein Gitarrist samt einiger Fans aufgebaut und in der Mitte steht ein rundes Karussell. Der Eingang zur Metro ist in dieser schönen Form gestaltet, der der Jugendstil dafür gefunden hat. Doch ich schreibe aus einem anderen Grund. Ich habe den Computer noch einmal geöffnet, weil ich festhalten möchte, dass sich auf der einen Seite des Platzes die dem Apostel Johannes gewidmete Kirche, ganz im Jugendstil gebaut, befindet. Im Eingang zur Kirche liegt ein selbst hergestelltes Buch mit vielen Namen von Männern und Frauen aus, die sich um eine wirkliche Nachfolge Jesu bemüht haben. Die Zahl und Qualität der Zeugnisse ist beeindruckend. Ich kenne nur einen Bruchteil davon. Unter ihnen steht der Name des heiligen Franz von Assisi. Der heilige Franz und das Armutsideal ist ein Thema, mit dem sich Rilke im dritten Buch des Stundenbuchs eingehend auseinandergesetzt hat. Armut ist ein Glanz von innen, heißt es dort. Ich glaube, an diesem Thema kommt kein überzeugter Christ vorbei. 
Später hat Rilke sich vom Christentum energisch distanziert. Er fand, dass der Glaube an ein Jenseits zu viel Energie von der Erde und vom Leben im Hier und Jetzt abziehe. Man lese den Brief eines jungen Arbeiters, um das ganze Ausmaß von Rilkes Abrechnung mit dem Christentum zu ermessen.
Hans Keydel hat sich in seiner Jugend und im Mannesalter nicht sonderlich für die Nachfolge Christi interessiert. Er hat zwar noch die Erste Kommunion mitgenommen, bevor er nach Paris kam. Er hat auch Erinnerungen an die Kirche, in der er zur Kommunion geleitet wurde. Doch weder Familie noch Schule gaben entsprechende Vorbilder ab. Das Diktum vom Opium für das Volk schien dem erwachsenen Hans, der sich sehr für die Sowjetunion und den Kommunismus interessierte, wahr zu sein. Gläubige Kirchgänger kamen ihm wie Schafe vor, die auf Befehl blökten. Doch diese Einstellung wurde durch das Leben umgeschrieben. Aus Hans Keydel, dem hochmütigen Atheisten, wurde ein spiritueller Sucher und gläubiger Christ.
Zu diesen den ersten Tag in Paris abschließenden Zeilen gehört auch die Erwähnung, dass es außer Rilke noch einen weiteren deutschsprachigen Schriftsteller gibt, der sich ganz dem Leben in der Stadt Paris gewidmet hat. Sein Name ist Paul Nizon. Er arbeitete als Kunstkritiker in Zürich, bis ihn eines Tages in Barcelona der Ruf des Schreibens ereilte. Er ist nicht mehr in die Schweiz zurückgekehrt. Er hat ein Hotelzimmer in Paris gemietet und das Schreiben angefangen. Er schreibt eine sehr dichte Prosa aus dem Augenblick heraus. Vielleicht ist er ein schreibender Einsiedler.
Für die Zukunft merken: Nicht „Abesse" und nicht „Pigalle" sind die Metro-Stationen für Montmartre, sondern das nichts sagende ANVERS. Diese Station liegt direkt unterhalb der Drahtseilbahn, die zum Sacré-Coeur hochfährt.

 

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