Hermann Hesse als Pionier west-östlicher Weisheit

Hermann Hesse als Pionier west-östlicher Weisheit

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Interkulturelle spirituelle Grundlagen des Glasperlenspiels

Zusammenfassung des Vortrags von Dr. Johannes Heiner in Calw am 26.10.2012

 

   

1. Die Kulturen und Religionen als „Kugeln“

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Hermann Hesse hat Zeit seines Lebens, bildlich ausgedrückt, mit „vier Kugeln“ jongliert:

- die erste Kugel war das Christentum, genauer gesagt, das von ihm durch das Studium der Mystiker im Anschluss an Novalis neu entdecktem mystischen Christentum. Zu nennen sind hier Namen wie Jakob Böhme und Meister Eckhart; aber auch das Studium der pietistischen Vordenker Oetinger und Bengel hat ihn zur Zeit der Niederschrift des „Glasperlenspiels“ beschäftigt;

- die zweite Kugel war der indische Kulturkreis und dort besonders der Buddhismus;

- die dritte Kugel war der chinesische Kulturkreis und dort besonders die Lehre von Yin und Yang und vom Tao;

- die vierte Kugel war die japanische; die Kultur der Stille im Zen-Buddhismus hat ihn nachhaltig berührt.

Ich habe die Inhalte, mit denen Hesse sich in den jeweiligen Kulturkreisen beschäftigt hat, in mehreren Vorträgen dargestellt. In zeitlicher Abfolge gesehen, hat er Schwerpunkte gebildet. Nach der Abwendung vom Christentum seiner Eltern hat er sich zunächst dem indischen, und dann dem chinesischen Denken zugewandt. Die Beschäftigung mit Japan war ein Ergebnis der Wiederannäherung mit dem „japanischen Vetter“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Zur Zeit des „Siddhartha“ waren es die Reden des Buddhas; zur Zeit des „Glasperlenspiels“ hat Hesse die alten Chinesen bevorzugt.

   

2. Die „Mitte“ der „Kugeln“

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Ich führe das Bild von den Kugeln weiter aus. Jede Kugel hat eine unsichtbare Mitte, aus der sie Kraft und Gestalt bezieht. Im Christentum bestand diese Mitte, wie schon angedeutet, in den Schriften der Mystiker. Sie suchten nach der Erfahrung der Vereinigung mit Gott und fanden sie in der unio mystica. Neuere Forschungen belegen, dass die Gedanken der christlichen Mystiker und die des buddhistischen Nirwana sehr ähnlich sind. Es geht in beiden Religionen um die Erleuchtung des Herzens, das sich von allen Anhaftungen an weltliche Belange befreit und sich voll und ganz auf „Gott“ konzentriert in der Erwartung einer gnadenhaften Erfahrung. Als Hesse seine Chinesen studierte, fand er in der Vorstellung des Tao die christlichen und buddhistischen Aspekte der Transzendierung der Ichkräfte bestätigt. Der Weise ist für den Hesse des „Glasperlenspiels“ ein Mensch, der das Tao in seinem Nichttun verwirklicht.

Hesse hat die Äquivalenz dieser mystischen Vorstellungen in den genannten Kulturkreisen mit zahlreichen Äußerungen belegt und hervorgehoben. Was noch wichtiger ist, er hat Gestaltungen gegeben, die es uns erlauben, mit den Figuren zu leben, sie anzuschauen und zu fühlen. Im „Glasperlenspiel“ erleben wir gleich zwei Ausprägungen der Figur des Weisen: zum einen den „Älteren Bruder“ im Bambusgehölz; zum anderen den Altmusikmeister in einer, wie ich finde, noch überzeugenderen Darstellung. Josef Knecht stirbt zu jung, um in den Tempel der ehrwürdigen Weisen Eingang zu finden. Aber er war auf dem Weg dorthin. Hesse hat den Werdegang Josef Knechts als „Stufen des Erwachens“ dargestellt. Ich habe diesem Thema einen eigenen Vortrag in Calw gewidmet (siehe „Stufen des Erwachens“).

   

3. Die drei Stufen der Menschheitsentwicklung

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Es folgt die Einordnung des Bildes mit den Kugeln und ihrer Mitte in die Entwicklung der Menschheit nach Hermann Hesse. Die drei Lebensläufe im Anhang des Glasperlenspiels sind historischer Art. Sie gehören der Vergangenheit an. Der kastalische Lebenslauf hingegen gehört einer qualitativ anderen, zeitlosen Utopie an.

Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins beginnt nach Hesse mit einem Zeitalter der Unschuld. Es folgt ein Zeitalter der Zwiespalts, des Kampfes und des schlechten Gewissens. Der Mensch ist nicht mehr im Reinen mit sich; die Suche nach dem Heil, nach Erlösung und Erleuchtung setzt ein. Der Mensch hofft auf ein drittes Zeitalter der Freiheit, in dem er die Leichtigkeit und Heiterkeit eines befreiten Lebens entdecken wird. Hesse hat diese Gedanken in der Betrachtung „Ein Stückchen Theologie“ von 1932 ungleich differenzierter dargestellt, als ich sie hier referiert habe. Wichtig ist der Dreischritt: Unschuld, Zwiespalt und neue Unschuld.

Die Frage ist nun, wie der kastalische Lebenslauf Josef Knechts in dieses Schema passt.

   

4. Die historischen Vorleben von Josef Knecht

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„Der Regenmacher“ (1934) erzählt die Geschichte von Josef Knecht auf der Stufe des magischen Denkens. Er opfert sein Leben für den Fortbestand des Stammes. Diese Grundstruktur des Dienens wird in allen Lebensläufen durchgehalten. Ändern tut sich das Ganze, dem die Hingabe des Dienenden gilt. Gelernt wird das reine Dienen ohne jede Beimischung von weltlichen Gelüsten. Josef Knecht verkörpert diese Haltung und ist uns von Hesse als Vorbild gegeben. Ich denke, dass Hesse sich damit deutlich vom Dienst am Führer abgrenzen wollte, dass er gezeigt hat, wie ein reiner Dienst aussehen könnte.

„Der Beichtvater“ (1936) spielt in der Zeit des Urchristentums. Die Wüstenväter im 2., 3. oder 4. Jahrhundert waren die Vorreiter der Mönche und lebten Gott zugewandt. Diese Erzählung veranschaulicht die inneren Kämpfe der Heiligen. Sie lebten in der Hoffnung auf Erlösung, dem dritten Zeitalter, haben aber den Zugang noch nicht gefunden.

Ich würde den pietistischen Lebenslauf aus dem Nachlass, den sogenannten „vierten Lebenslauf“, an dieser Stelle, dem zweiten Zeitalter des Zwiespalts, einordnen. Josef Knecht findet, obwohl er[KH1] Theologie studiert, keinen wirklichen Zugang zum Priestertum. Die Vermittlung des Wort Gottes ist ihm zu wenig. Er sucht nach einem Erleben, das ihn ganz erfüllen könnte, und er findet es andeutungsweise in der Musik. Aber erst der Josef Knecht des kastalischen Lebenslaufs erlebt den Durchbruch zum Geist der Musik.

Es folgt der „indische Lebenslauf“, eine letzte Erinnerung an die eigene Zeit der indischen Studien rund um die Erzählung „Siddhartha“ (1922). Josef Knecht heißt jetzt Dasa. Er ist der Sohn eines Fürsten, wird aber von den Hirten aufgezogen. Als er ein Jüngling geworden ist, begegnet er einem Menschen, der allein im Wald lebt und meditiert. Er fühlt sich sehr angezogen, muss aber erst noch das Leben eines Fürsten kennenlernen, das ihm zugedacht war. Erst als er dieses Leben als „Maya“ durchschauen lernt, wird er reif für das Leben eines Yogis.

   

5. Der kastalische Lebenslauf

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Die Vorleben von Josef Knecht spielen in einer definierbaren Vergangenheit. Kastalien aber ist eine Utopie, von Hesse in die Zukunft um 2200 verlegt. Kastalien ist uns von Hesse als ein Vorbild für eine von Leid und Schuld befreite, spielende Menschheit aufgestellt worden. Jeder Mensch, der die im „Glasperlenspiel“ dargestellte Haltung der Kontemplation erkannt hat und sie verwirklichen möchte, kann sie verwirklichen. Er findet in der Mitte des von ihm gewählten Kulturkreises Methoden der Transformation, die ihm bei der Befreiung von den Ichkräften helfen werden. Das Yoga und die Meditation werden von Hesse als Wege zur Entdeckung des Selbst im eigenen Ich vorgestellt.

Inzwischen sind ja auch Methoden aus dem christlichen Kulturkreis neu belebt worden. Der suchende Mensch muss nicht mehr Zuflucht zum Buddhismus nehmen, um sich einen Weg in seine Mitte zu bahnen. Er kann z.B. das Herzensgebet üben. „Kontemplation“ ist ein neuer Begriff. Er ersetzt zunehmend den früheren Begriff der Meditation.

   

6. Stufen des Erwachens

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Fragt man sich, wie Hesse den Weg nach innen im „Glasperlenspiel“ ausführt, möchte ich auf meine Arbeit zu den Stufen des Erwachens von Josef Knecht verweisen. Der äußere Lebensweg Knechts wird charakterisiert durch das Erlangen der Würde des Glasperlenspielmeisters. Der innere Weg wird durch die Stufen des Erwachens ausgeführt. Es ist, wie wenn in bestimmenden Momenten des Erlebens von Josef Knecht ein Glöcklein läuten würde. Das Erleben Josef Knechts wird damit als eine weitere Stufe des Erwachens ins Bewusstsein der Leserin und des Lesers gehoben.

Josef Knecht ist also ein Erwachter und das Erwachen führt ihn ins Leben außerhalb von Kastalien. Er ist kein Held im klassischen Sinn des Wortes, sondern ein Frommer. Hesse hat die typischen Merkmal des frommen Menschens in der schon erwähnten Betrachtung aufgezählt. Am Schluss fügte er hinzu: Sollte er zwischen dem Leben des „Vernünftigen“ und des „Frommen“ wählen, würde er von sich behaupten, dass er in seinem Leben den Typus des Frommen verkörpert hat.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zum abstrakten Stil des „Glasperlenspiels“, an dem sich viele Hesse-Leserinnen und -Leser stoßen. Sie wenden sich enttäuscht von Hesses größtem Werk ab, weil sie die psychologisch einfühlende Darstellung einer Heldenfigur vermissen. Manche Leserinnen und Leser denken vielleicht auch, es handele sich um den Altersstil des Meisters. Auf dem Hintergrund der Lebensläufe gesehen, ergibt sich ein anderes Bild. Hesse hat in den Lebensläufen nach dem wirklichen „Glasperlenspiel“ gesucht. Jeder neue Lebenslauf hat ihn der Darstellung von Kastalien näher gebracht. Die Niederschrift des kastalischen Lebenslaufs beginnt erst 1938. Das heißt, Hesse hat sechs Jahre lang experimentiert. Er hatte zwar 1934 die letzte Fassung der „Einleitung“ beendet. Doch nun erst setzte er mit der „Realisierung“ der Ideen aus der „Einleitung“ ein, indem er die Vorleben von Josef Knecht geschildet hat.

Der abstrakte, unpersönliche Stil ist eine Aussage an und für sich. Es ging Hesse nicht mehr um Psychologie und Selbstverwirklichung. Die hat er mit „Narziss und Goldmund“ (1930) hinter sich gelassen. „Die Morgenlandfahrt“ war ein Versuch in einer neuen Richtung, die ganz auf das Wesentliche der mystischen Erfahrung und Kontemplation konzentriert ist. Das Persönliche musste nun in Hesses Augen beiseite treten. Er sah mit Hitler die Grundfesten der Kultur erschüttert. Hesse fühlte sich herausgefordert, zum letzten Mal sein Bestes für den Fortbestand des „besseren Deutschlands“ zu geben.


© Johannes Heiner, November 2012